Des Teufels Kardinal
dem großen Strohhut stand mit den übrigen Fahrgästen Schlange, als das Tragflügelboot aus der Dunkelheit über dem See auf die Anlegestelle zulief.
An der Treppe hielten vier mit Uzis bewaffnete Polizisten in schuß-
sicheren Westen Wache. Vier weitere Beamte patrouillierten an der Anlegestelle selbst, musterten die Gesichter der wartenden Fahrgäste und hielten Ausschau nach den Flüchtigen. Stichprobenartige Kontrollen bestätigten, daß fast alle Wartenden ausländische Touristen waren. Engländer, Deutsche, Brasilianer, Australier, Amerikaner.
»Grazie«, sagte der junge Polizeibeamte lächelnd und legte eine Hand an den Mützenschirm, als er Julia Louise Phelps ihren Paß zurückgab. Dies war kein blonder Killer mit zerkratztem Gesicht, keine italienische Nonne und kein flüchtiger Priester oder sein Bruder. Dies war eine hochgewachsene, attraktive Frau, eine Amerikanerin, wie er richtig vermutet hatte, mit einem großen Strohhut und einem bezaubernden Lächeln. Deshalb hatte er sie überhaupt angesprochen und um ihren Ausweis gebeten – nicht weil sie ihm verdächtig erschien, sondern weil er mit ihr flirten wollte. Und sie hatte sich darauf eingelassen.
Als das Tragflügelboot jetzt anlegte und ein Teil seiner Fahrgäste von Bord ging, steckte die Amerikanerin ihren Reisepaß wieder in ihre Umhängetasche, lächelte dem jungen Polizeibeamten nochmals zu und ging mit den übrigen Wartenden an Bord. Wenig später wurde die Gangway eingezogen, und das Tragflügelboot legte mit auf-heulenden Motoren ab.
Die Polizeibeamten auf der Anlegestelle und oben an der Treppe beobachteten, wie das Boot Fahrt aufnahm, und sahen seinen Rumpf aus dem Wasser steigen, als es auf den nächtlichen schwarzen See hinauslief, um erst nach Tremezzo und Lenno hinüberzufahren und dann über Lezzeno und Argegno nach Como zurückzukehren. Das Tragflügelboot Freccia delle Betulle war das letzte Schiff dieses Tages. Und die Spannung, unter der die Polizeibeamten gestanden hatten, löste sich bei seiner Abfahrt. Sie wußten, daß sie gute Arbeit 348
geleistet hatten. In ihrer Schicht war garantiert keiner der Gesuchten durchs Fahndungsnetz geschlüpft.
Vatikan.
Mittwoch, den 15. Juli, 0.20 Uhr
Farel öffnete die Tür von Palestrinas Arbeitszimmer, und Pater Bardoni trat ein: gefaßt, weder von der späten Stunde noch von der Tatsache beeindruckt, daß er herbeizitiert worden war.
Palestrina, der an seinem Schreibtisch saß, bedeutete Pater Bardoni mit einer Handbewegung, in einem der Besuchersessel Platz zu nehmen.
»Ich habe Sie rufen lassen, um Ihnen persönlich mitzuteilen, daß Kardinal Marsciano erkrankt ist«, sagte er, als der Priester vor ihm saß.
»Erkrankt?« Pater Bardoni richtete sich auf.
»Er ist heute am frühen Abend hier in meinem Arbeitszimmer zusammengebrochen, nachdem wir in der Chinesischen Botschaft gewesen waren. Die Ärzte nehmen an, daß er nur erschöpft und über-anstrengt ist, sind sich aber nicht ganz sicher. Deshalb muß er vorläufig unter Beobachtung bleiben.«
»Wo ist er jetzt?«
»Hier im Vatikan«, sagte Palestrina. »In einer Gästewohnung im Johannes-Turm.«
»Warum ist er nicht in einem Krankenhaus?« Aus dem Augenwinkel bemerkte Pater Bardoni, wie Farel vortrat und sich neben ihn stellte.
»Weil ich es für ratsam gehalten habe, ihn hier unterzubringen.
Weil ich glaube, den Grund für seine ›Erschöpfung‹ zu kennen.«
»Und der wäre?«
»Das anhaltende Dilemma um Pater Daniel.« Palestrina beobachtete den Priester genau. Bisher ließ er keine Gefühlsregung erkennen, nicht einmal jetzt, als Pater Daniel erwähnt worden war.
»Das verstehe ich nicht.«
»Kardinal Marsciano hat geschworen, Pater Daniel sei tot. Und vielleicht glaubt er noch immer nicht, was die Polizei längst tut; daß Pater Daniel das nicht ist. Außerdem gibt es neue Hinweise darauf, 349
daß Pater Daniel nicht nur lebt, sondern auch in der Lage ist, sich seiner Ergreifung nachhaltig zu entziehen. Das alles bedeutet, daß er vermutlich auch imstande ist, mit alten Weggefährten in Verbindung zu treten.«
Palestrina machte eine Pause und sah dem Priester in die Augen, damit seine nun folgenden Worte keinesfalls mißverstanden werden konnten.
»Kardinal Marsciano wäre bestimmt überglücklich, Pater Daniel lebend wiederzusehen. Aber da er sich in ärztlicher Obhut befindet und nicht reisefähig ist, sollte Pater Daniel herkommen oder notfalls hergebracht werden, um ihn im Johannes-Turm zu
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