Des Teufels Kardinal
Renaissancetruhe um, auf der eine Marmorbüste Alexanders des Großen aus dem fünften Jahrhundert stand.
»Ich bin als Sohn des Königs von Mazedonien auf die Welt gekommen.« Er sprach mit Farel, aber sein Blick blieb auf die Büste gerichtet. »Aristoteles ist mein Lehrer gewesen. Als ich zwanzig war, ist mein Vater einem Attentat zum Opfer gefallen, und ich bin ihm auf den Thron nachgefolgt, auf allen Seiten von den Feinden meines 342
Vaters umgeben. Aber ich habe sie binnen kurzem aufgespürt und alle hinrichten lassen, bevor ich mich mit meinen Getreuen aufge-macht habe, um die angezettelte Rebellion niederzuschlagen. Zwei Jahre später war ich Herrscher über ganz Griechenland, hatte den Hellespont mit einem Heer aus fünfunddreißigtausend Griechen und Mazedoniern überschritten und war ins Perserreich eingedrungen.«
Als Palestrina sich jetzt langsam Farel zuwandte, ließen seine Sitzhaltung und der Lichtschein der Lampe neben der Büste sein Haupt fast mit dem Alexanders verschmelzen. Nun suchte er Farels Blick, bevor er weitersprach, und Farel spürte, wie ihm ein kalter Schauder über den Rücken lief. Mit jedem Wort wurden Palestrinas Augen dunkler und entrückter, während er sich immer mehr mit der Gestalt identifizierte, die er seiner Überzeugung nach war.
»Bei Troja habe ich ein vierzigtausend Mann starkes Heer geschlagen und dabei nur hundertzehn meiner Soldaten verloren. Von dort aus bin ich weiter nach Süden vorgestoßen, wo Darius sich mir mit der persischen Hauptarmee von fünfhunderttausend Mann entgegen-gestellt hat.
Der besiegte Großkönig ist so überstürzt geflüchtet, daß er seine Mutter, seine Frau und seine Kinder zurückgelassen hat. Danach habe ich Tyros und Gaza erobert, bin in Ägypten einmarschiert und habe damit die gesamte Ostküste des Mittelmeers kontrolliert. Danach waren Babylon und der Rest des Perserreichs jenseits der Süd-küste des Kaspischen Meeres bis nach Afghanistan an der Reihe, bevor ich ins heutige Turkestan und nach Zentralasien vorgestoßen bin. Das war«, Palestrina sah zu Alexander dem Großen hinüber, »im Jahr 327 vor Christus, und ich hatte den größten Teil meiner Siege in nur drei Jahren erkämpft.«
Palestrina kehrte mit einem Ruck in die Gegenwart zurück und wandte sich wieder an Farel.
»Ich bin in Persien siegreich gewesen, Jakow. Ich werde auch in China siegreich sein.« Er senkte seine Stimme und schien Farel mit seinem Blick durchbohren zu wollen. »Schaffen Sie Pater Bardoni her. Sofort!«
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Bellagio.
22.50 Uhr
Elena lag im Dunkeln und blickte zu dem Lichtschein auf, der durch das hoch über ihr in die Wand eingelassene kleine Fenster in den Raum fiel.
Sie waren im alten Klostertrakt hinter der Kirche, in dem jetzt die Geistlichen wohnten. Im Augenblick war Pater Renato, der stämmige, freundliche Priester, der sie zum Lastwagen begleitet hatte, hier jedoch allein, weil seine Amtsbrüder zu einer Priesterfreizeit gefahren waren. Diesem Umstand verdankte Elena ihre winzige Zelle, während Pater Daniel nebenan und Harry in der Zelle gegenüber schliefen.
Sie bedauerte noch immer, daß sie erst spät zurückgekommen und Harry solche Sorgen bereitet hatte, aber sie hatte keine andere Wahl gehabt. Pater Renato war schwer zu überzeugen gewesen. Erst als Elena ihre Mutter Oberin in Siena telefonisch erreicht und er selbst mit ihr gesprochen hatte, hatte er eingelenkt und war bereit gewesen, Elena zu begleiten. Dabei hatten sie mit dem Rollstuhl im Schatten der Kirche warten müssen, bis die beiden Polizisten auf Motorrad-streife vorbeigefahren waren.
Danach hatten sie Pater Daniel hergebracht, ihm Tee und Reispudding gegeben und ihn ins Bett gelegt. Anschließend hatte Pater Renato sie in die winzige Küche mitgenommen und ihnen Pasta mit einem Rest Hühnerragout aufgetischt. Er hatte ihnen die Zellen gezeigt, in denen sie schlafen konnten, jedoch nur für eine Nacht, weil sie wei-terziehen mußten, bevor seine Amtsbrüder morgen zurückkamen.
Weiterziehen, dachte Elena, während sie zu dem schwachen Lichtschein aufsah. Aber wohin?
Dieser Gedanke brachte sie auf etwas anderes: auf ihre persönliche Freiheit oder vielmehr deren Fehlen. Der Wendepunkt war der Augenblick gewesen, in dem sie in der Höhle am See emotional zusammengebrochen war und Harry seinen Bruder verlassen hatte, um sie zu umarmen und zu trösten, obwohl er so erschöpft und ratlos 344
gewesen sein mußte wie sie selbst. Der zweite Augenblick war
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