Des Teufels Kardinal
Wissenschaftlern einfach abgewandt hatte und davongegangen war.
Während seine Linke in dem vergeblichen Bemühen, den Verwe-sungsgeruch fernzuhalten, ein Taschentuch gegen seine Nase ge-drückt hielt, war er mit seiner schweren Aktentasche in der Rechten die Changjiang Lu entlang unterwegs. Er mußte abwechselnd die Fahrbahn und den Gehsteig benutzen, um sich zwischen überquel-lenden Krankenwagen und Horden ängstlicher, verwirrter Menschen hindurchzuschlängeln, die in verzweifelter Hast die Stadt verlassen wollten, auf der Suche nach Angehörigen waren oder angstvoll auf Schüttelfrost und Übelkeit warteten, die anzeigten, daß ihr angeblich einwandfreies Trinkwasser auch sie vergiftet hatte. Die meisten Menschen taten alle drei Dinge gleichzeitig.
Li Wen schleppte in Schweiß gebadet seine schwere Aktentasche, zwängte sich zwischen den Soldaten hindurch und wich Militärpolizisten aus. Jeder Schritt war mühseliger als der vorige, weil sein entschieden untrainierter sechsundvierzigjähriger Körper unter dem Streß der vergangenen Tage, der schwülen Hitze und dem schrecklichen Verwesungsgestank litt, der inzwischen allgegenwärtig war.
Schließlich erreichte er die Gepäckaufbewahrung und holte den ver-kratzten Koffer ab, den er am Montag bei seiner Ankunft aufgegeben hatte. Dieser Koffer enthielt die Chemikalien, die er brauchen würde, um weitere »Schneebälle« herzustellen.
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Bellagio, Einsatzzentrale der Gruppo Cardinale in der Villa Lorenzi.
Mittwoch, den 15. Juli, 6.50 Uhr
Roscani blickte in den großen Ballsaal hinaus. Dort arbeitete nur noch eine Kernmannschaft, weil er seine wichtigsten Leute gegen Mitternacht in den ersten Stock hinaufgeschickt hatte, wo das Militär für sie Feldbetten aufgestellt hatte. Castelletti war seit Tagesanbruch mit dem Hubschrauber unterwegs, während Scala mit zwei Hundeführern und ihren Spürhunden in die Grotte zurückgekehrt war, die sie noch immer nicht ganz durchsucht hatten.
Um ein Uhr morgens hatte Roscani weitere achthundert Soldaten angefordert und sich dann selbst hingelegt. Aber um drei Uhr fünfzehn war er schon wieder auf den Beinen, hatte geduscht und trug dieselben Kleidungsstücke wie seit zwei Tagen. Gegen vier Uhr hatte er einen Entschluß gefaßt, der sie hoffentlich weiterbringen würde.
Um sechs Uhr wurde seine Ankündigung von lokalen Radio- und Fernsehstationen verbreitet und in den Frühmessen von den Kanzeln verlesen. In genau zwei Stunden, um Punkt acht Uhr, würde das Militär im gesamten Einsatzgebiet eine Durchsuchungsaktion von Haus zu Haus beginnen. Seine Ankündigung war einfach und direkt for-muliert: Die Gesuchten hielten sich irgendwo in der Nähe auf; sie würden aufgespürt werden, und wer sie versteckt hatte, würde als ihr Komplize verhaftet und angeklagt werden.
Diese Ankündigung war mehr als nur eine Drohung. Sie war ein Trick, denn die Flüchtigen sollten glauben, sie hätten eine Chance, wenn sie vor dem festgesetzten Zeitpunkt unterwegs waren. Deshalb hatten die Polizisten und Soldaten schon um fünf Uhr dreißig unauffällig ihre Posten bezogen, warteten und beobachteten ihre Umgebung in der Hoffnung, einer oder alle der Gesuchten würden aus ihrem Versteck kommen und zu flüchten versuchen.
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6.57 Uhr
Roscani warf einen Blick auf Eros Barbus prächtig vergoldete Roko-kouhr an der Wand über dem verwaisten Orchesterpodium und sah dann zu den Männern und Frauen an den Computern und Telefonen hinüber, die eingehende Meldungen verarbeiteten und die Fahn-dungsarbeit der Gruppo Cardinale koordinierten. Schließlich trank er einen Schluck von seinem Kaffee, der zu süß und schon kalt war, und verließ nach einem letzten Blick in die Runde den prunkvollen Ballsaal.
Draußen lag der Comer See spiegelglatt in der stillen Morgenluft.
Roscani drehte sich um und betrachtete die imposante Villa. Wie jemand es sich leisten konnte, in solchem Luxus zu leben, war fast unvorstellbar. Trotzdem fragte Roscani sich, wie es gewesen wäre, hierher eingeladen zu werden, zur Musik eines bekannten Orchesters zu tanzen und vielleicht, er mußte unwillkürlich lächeln, ein bißchen dekadent zu sein.
Dieser Gedanke verschwand jedoch, als er dem Kiesweg am See folgte und dabei wieder an das Interpoldossier dachte, das keinerlei Informationen über den blonden Mörder mit dem Eispik-ker/Rasiermesser enthalten hatte. Praktisch im selben Augenblick nahm er den starken Duft wildwachsender Blumen wahr. Dieser eher
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