Des Teufels Kardinal
fallen und fühlte dabei ein triumphierendes Flattern seines Herzens. Dann ließ er rasch die restlichen fünf folgen und beobachtete, wie sie von der schnellen Strömung mitgerissen wurden und in den trüben Wasserwirbeln verschwanden.
Li Wen wandte sich rasch ab, verstaute Styroporbehälter und Latexhandschuhe wieder in seiner Aktentasche und ließ die Schlösser zuschnappen. Danach trat er wieder an eine der Luken, holte aus einem Stahlschränkchen an der Wand ein Reagenzglas, entnahm eine Wasserprobe und machte sich ohne Hast daran, ihren Reinheitsgrad zu ermitteln, der vermutlich innerhalb der staatlich festgelegten Grenzwerte liegen würde.
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Bellagio am Comer See.
Montag, den 13. Juli, 22.40 Uhr
Harry griff nach der Reisetasche, die Adrianna ihm mitgegeben hatte, als er das Hotel in Como verließ. Er ging mit den wenigen übrigen Fahrgästen des Tragflügelboots von Bord, über den Steg und zur Straße hinauf. Vor ihm unter dem dichten Laubdach der Uferbäume stand der noch beleuchtete, aber um diese Zeit unbesetzte Fahrkar-tenkiosk der Navigazione Lago di Como. Dahinter sah er die Uferpromenade und das Hôtel du Lac. In einer, höchstens zwei Minuten war er dort drüben in Sicherheit.
Die Fahrt von Como nach Bellagio mit Zwischenstopps in den Kleinstädten Argegno, Lezzeno, Lenno und Tremezzo war nerven-aufreibend gewesen. Bei jedem Anlegen hatte Harry erwartet, daß bewaffnete Polizeibeamte an Bord kommen und die Identität aller Fahrgäste überprüfen würden. Aber kein Polizist hatte sich blicken lassen. Erst als das Tragflügelboot in Tremezzo zur letzten Teilstrek-ke nach Bellagio ablegte, hatte Harry sich wie die übrigen Mitreisenden entspannt zurückgelehnt. Seit langer Zeit fühlte er sich zum erstenmal ungefährdet, fühlte sich nicht als Gejagter. Er hatte nur das Motorengeräusch und das Rauschen des Wassers unter dem Bootsrumpf im Ohr.
Auch jetzt fühlte er sich nicht anders, als er wie die anderen Leute über den Steg ging wie ein Tourist, wie ein gewöhnlicher Fahrgast, der von Bord kam und in eine laue Sommernacht hinaufging. Er war müde, das spürte er, geistig und körperlich erschöpft. Am liebsten hätte er sich irgendwo verkrochen, die Welt um sich herum vergessen und eine Woche lang geschlafen. Aber dies war kaum der rechte Ort dafür. Er war in Bellagio, auf das sich die Großfahndung der Gruppo Cardinale konzentrierte. Und sie fahndete nicht nur nach Danny. Er mußte wachsamer und hellwacher sein als je zuvor. »Mi scusi, padre.«
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Aus der Dunkelheit unter den Bäumen traten plötzlich zwei uniformierte Polizisten. Beide jung, beide mit umgehängter Maschinenpistole.
Der erste Polizeibeamte vertrat ihm den Weg. Harry blieb stehen, und die übrigen Fahrgäste drängten sich an ihm vorbei, so daß er allein mit der Polizei zurückblieb.
»Corne si chiama?« Wie heißen Sie? fragte der junge Uniformierte.
Harry sah von einem zum anderen. Dies war der entscheidende Augenblick. Jetzt mußte sich zeigen, ob er die ihm von Eaton zuge-dachte Rolle beherrschte oder nicht.
»Corne si chiama?«
Er war noch immer hager, schlanker als der Harry Addison in dem Videofilm. Und er trug noch immer einen Bart wie auf seinem Paß-
foto. Vielleicht genügte das.
»Entschuldigung«, sagte er lächelnd. »Ich spreche leider nicht italienisch.«
»Americano?«
»Ja.« Er lächelte erneut.
»Kommen Sie bitte mit«, forderte der zweite Beamte ihn auf englisch auf. Harry folgte ihnen über den Weg ins Licht des Fahrkarten-kiosks.
»Sie haben Ihren Paß bei sich?«
»Ja, natürlich.«
Harry griff in seine Jacke, ertastete den Reisepaß, den Eaton ihm gegeben hatte. Er zögerte.
»Passaporto!« verlangte der erste Beamte scharf.
Harry zog langsam seinen Paß heraus und gab ihn dem Uniformierten, der englisch sprach. Dann beobachtete er, wie erst der eine, dann der andere ihn studierte. Auf der anderen Straßenseite, praktisch in Reichweite, stand das Hotel, in dessen Straßencafe noch reger Betrieb herrschte.
»Sacco.«
Der erste Polizeibeamte deutete auf die Reisetasche, die Harry ihm bereitwillig überließ. In diesem Augenblick hielt drüben vor dem Hôtel du Lac ein Streifenwagen, dessen Fahrer zu ihnen hinübersah.
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»Pater Jonathan Roe.« Der zweite Beamte klappte Harrys Paß zu, gab ihn aber nicht zurück.
»Richtig.«
»Wie lange sind Sie schon in Italien?«
Harry zögerte kaum merklich. Gab er an, in Rom, Mailand, Florenz oder sonstwo in Italien gewesen zu
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