Des Teufels Werk
Hinterzimmer.
Hier hätte ich den Rundgang beinahe abgebrochen. Ein Angebot zur freien Besichtigung eines fremden Hauses zu bekommen, ist das eine; ob und wie man von so einem Angebot Gebrauch macht, ist das andere. Ich drängte mich doch hier nur aus Neugier ein oder, schlimmer noch, weil ich den kindischen Wunsch hatte, die dummen Gesichter in Winterbourne Barton zu sehen, wenn ich erzählte, dass ich ins Haus gebeten worden war. Aber die Diskrepanz zwischen dem, was ich sah, und dem, was mir geschildert worden war, trieb mich weiter, und erst als ich einen ganzen Flur voller Familienfotos entdeckte, wurde mir klar, wie das Gerede von morbider Vergangenheitsfixierung entstanden war.
Ganze Reihen von Bildern hingen da, die alle dieselben vier lachenden Menschen zeigten – einen Mann, eine Frau, einen Jungen und ein Mädchen. Jeden Meter etwa kehrten dieselben Aufnahmen in unterschiedlichen Variationen wieder. Es gab Porträts in Posterformat. Schnappschüsse in Postkartengröße. Kopfaufnahmen, die aus Gruppenbildern heraus vergrößert waren. Einzelfotos der Kinder, die neben Aufnahmen der Eltern geklebt waren, um mit ihnen zusammen eine lachende Gruppe zu bilden. Es war eine Collage in Schwarzweiß und kraftvollen Farben, die sich schier endlos über die Korridorwände zog und vor Leben sprühte.
Ich dachte an die Fotos, die ich von meinen Eltern besaß. Die steifen Aufnahmen von ihrer Hochzeit und die Urlaubsschnappschüsse, die bemühtes Lächeln zeigten oder widerwillig zusammengekniffene Augen. Nur ein paar gab es, ohne ihr Wissen aufgenommen, auf denen sie völlig natürlich wirkten. Was für eine gute Idee, sagte ich mir, die fröhlichen zu vervielfältigen, anstatt die Wände mit Verlegenheitsposen und steifer Würde zu behängen.
»Wie finden Sie es?«, fragte Jess hinter mir.
Ich hatte sie nicht kommen hören und drehte mich erstaunt nach ihr um. »Genial«, sagte ich aufrichtig. »So möchte ich auch gern in Erinnerung behalten werden.«
»Sehr beeindruckt sehen Sie aber nicht aus.«
»Weil Sie mich überrascht haben. Wer hat die Aufnahmen gemacht? Sie?«
»Ja.« Ihr Blick schweifte über die Bilder. »Lily fand meine Galerie fürchterlich. Sie sagte, es täte mir nicht gut – ich solle mich nicht so an meine Erinnerungen klammern.«
Immer ein guter Rat, dachte ich, aber auf Fotografien nicht anwendbar. Meine Mutter hatte Bilder ihrer verstorbenen Eltern auf ihrem Nachttisch, und ich hatte nie das Gefühl gehabt, dass sie da nicht hingehörten. »Warum sind
Sie
nirgends drauf?«
»Da bin ich doch.« Sie wies auf eine Aufnahme in Postkartengröße gleich zu Anfang der Galerie: ihre Eltern Arm in Arm mit einem Mädchen, das ich für ihre Schwester gehalten hatte.
Ich trat zurück, um es mir anzusehen. »Ich habe Sie nicht erkannt. Wann ist das Bild gemacht worden?«
»An meinem zwölften Geburtstag. Meine Eltern hatten mir einen Fotoapparat geschenkt, und ich erlaubte meinem Bruder Rory, diese Aufnahme damit zu machen.«
»Wie alt war er?«
»Acht – fünfzehn, als er starb. Sally war zwei Jahre jünger.«
»Und Ihre Eltern?«
»Beide Ende vierzig.« Sie zeigte auf eine Fotografie in Posterformat in der Mitte der Wand. »Das ist das letzte Bild, das ich von ihnen gemacht habe. Es war ungefähr drei Wochen vor dem Unfall.«
Ich ging an ihr vorbei, um mich direkt vor die Aufnahme zu stellen. Sie war in Farbe, im Hintergrund war kein Meer, aber die Komposition und wie das Sonnenlicht von der Seite auf die beiden Gesichter fiel, erinnerte mich an das Schwarzweißbild von Madeleine in Barton House. »Haben Sie das Foto von Madeleine gemacht, das bei mir im oberen Flur hängt?«
»Vielleicht.«
»Es ist im ganzen Haus das einzige Stück, das das Hinsehen lohnt. Der Rest ist nichts als Schrott – einschließlich Nathaniels Gemälden.«
Es sollte ein Kompliment sein, aber Jess wies es zurück. »Es hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit Madeleine«, sagte sie unwirsch. »Ich habe es nur aufgenommen, um Lily glücklich zu machen. Sie brauchte das Gefühl, dass irgendetwas Gutes aus der Familie Wright hervorgegangen war. Wäre es eine ehrliche Aufnahme, dann wäre es genauso spukhässlich wie das Bildnis des Dorian Gray.«
»Sie hatten eine hübsche Mutter, Jess«, sagte ich, um sie abzulenken.
Aber sie reagierte nicht darauf. »Wissen Sie, manchmal frage ich mich allen Ernstes, ob es bei Madeleine vielleicht tatsächlich so läuft. Solange Nathaniel ihre Bösartigkeit in seine Bilder packt,
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