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Des Teufels Werk

Titel: Des Teufels Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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worden, wobei allerdings zu fragen wäre, was zuerst da war – der Sadismus oder die Abkapselung. Es ist unwahrscheinlich, dass er mit sadistischen Fantasien zur Welt kam, aber sie konnten durch eine schlimme Kindheit geweckt worden sein. Im Gegensatz dazu war Jess' Introvertiertheit offenbar ein vom Vater ererbter Wesenszug, der vielleicht durch die tragischen Ereignisse in ihrem Leben verstärkt worden war. Manchmal, besonders wenn sie absolut nicht sprechen wollte, erschien sie mir beinahe autistisch. Sie war zweifelsohne eine hochbegabte Malerin und so besessen von ihrer Arbeit, wie man das bei echten Genies erlebt.
    Sie besaß Charisma. Sie rief Zuneigung und Loyalität bei denen hervor, die sich auf sie einließen, und unverhältnismäßige Feindseligkeit bei allen, die es nicht taten. Ein Mittelmaß gab es bei Jess nicht. Man liebte oder man hasste sie und akzeptierte im einen wie im anderen Fall ihre Distanziertheit als einen Teil von ihr.
    All das war für mich Grund genug, darauf zu sehen, dass ich innerhalb der festgesetzten Frist von einer halben Stunde wieder unten war, denn ich brauchte sie weit dringender als sie mich.

Auszüge aus Aufzeichnungen unter dem Aktenzeichen ›CB15 – 18/05/04

    … Die Polizei in Bagdad hielt es für möglich, dass meine vorgebliche Unwissenheit auf das Stockholm-Syndrom zurückzuführen sei – d. h. dass ich, um am Leben zu bleiben, eine Beziehung zu den Leuten entwickelt hätte, die mich entführt hatten, und aus Dankbarkeit für meine Freilassung Informationen zurückhielte. Sie sagten, dafür brauche man sich nicht zu schämen. Das ergehe den meisten Geiseln so, weil ihr Leben von den Leuten abhänge, die sie in ihrer Gewalt hätten; es sei klassische Notwehr, sich den zum Freund zu machen, der einen bedroht. Als ich das leugnete, war es vorbei mit ihrem Mitgefühl.
    … Eine Beziehung stellte ich einzig zu den Schritten her. Ich sehnte sie herbei, weil ich immer Angst hatte, man würde mich langsam verhungern und verdursten lassen … und ich fürchtete zugleich ihren Klang, weil er bedeutete, dass ich aus der Kiste herausgeholt werden würde. Ganz sicher entwickelte ich eine psychische Abhängigkeit von Geräuschen. Drei Tage lang war ich eine Sklavin – und bin es immer noch.
    … Ich war entschlossen, nie über das zu sprechen, was mir geschehen war. Wie hätte ich Fremden mein Lächeln erklären sollen? Habe ich ein einziges Mal nein gesagt? Habe ich ein einziges Mal daran
gedacht,
nein zu sagen?
    … Wissen alle Sadisten um die Macht, die sie haben? Sind alle Opfer darauf programmiert, in gleicher Weise zu reagieren?
    … Ich wollte, ich könnte das glauben. Es wäre wenigstens eine Entschuldigung für Feigheit. Warum bin ich am Leben? Das verstehe ich überhaupt nicht …

11

    In der Küche erwartete mich eine Reprise der Szene am Tag meiner Ankunft. Als ich die Tür aufstieß, saß Peter am Tisch und Jess stand trotzig am Herd, den Blick zu Boden gerichtet. Ich hatte Peters Wagen nicht gehört und erstarrte innerlich vor Angst, sobald ich ihn bemerkte. Er sah mich mit einem beruhigenden Lächeln an. »Ich nehme es Ihnen nicht übel, wenn Sie mich wegschicken, Marianne. Jess hat mir befohlen, ›schleunigst meinen Arsch hier rüberzuschwingen‹. Sie behauptete, es sei ein Notfall, aber wie Sie sicherlich wissen, sind ihre Diagnosen nicht immer richtig.«
    Jess warf ihm einen finsteren Blick zu. »Sie müssen mit jemandem reden«, sagte sie schroff zu mir, »und Peter ist da wahrscheinlich der Beste. Lassen Sie sich von ihm nur nicht auf Drogen setzen. Wenn er Sie zum Zombie macht, sind Sie für jeden Psychopathen, der vorbeikommt, leichte Beute.«
    Peter runzelte warnend die Stirn. »Halt die Klappe, Jess. Wenn das deine Art von Taktgefühl ist, wundert es mich nicht, dass dein Bekanntenkreis ausschließlich aus Wieseln besteht.«
    »Aber genau davor hat sie doch Angst.«
    Er stand auf und wies auf einen Sessel. »Bitte, kommen Sie herein, Marianne. Sie haben mein Wort, dass außer Jess und mir niemand hier ist. Ich habe ihr auch klar gemacht, dass jetzt nicht der Moment ist, Sie von Ihrer Angst vor Hunden zu kurieren – Sie brauchen sich also nicht mit den Mastiffs auseinander zu setzen.«
    Jess sah mich finster an. »Es ist Ihre Sache, aber mit einem Hund als Beschützer wären Sie besser dran. Ich kann Ihnen Bertie leihen. Er war Lilys Hund, bis sie sich nicht mehr um ihn kümmern konnte, er wird sich also hier problemlos einleben, wenn Sie

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