Des Todes Liebste Beute
Deren Eltern zur Taufe am nächsten Samstag kommen würden. Sie leckte sich über die Lippen, die plötzlich trocken geworden waren. »Sie lebt also nicht mehr?«
»Sie ist vor einem Jahr gestorben.«
Kristen wartete einen Moment, aber er sprach nicht weiter. »Woran?«
Seine Miene wurde zornig. »Die offizielle Ursache war Herzversagen, aber nach fünf Jahren im vegetativen Zustand hätte wahrscheinlich jedes Versagen die gleiche Ursache gehabt.«
Ihre Kehle wurde eng, als ihr aufging, was er da gerade gesagt hatte. Fünf Jahre. Fünf Jahre im grausigen Schwebezustand. Ihr Herz wurde schwer, als sie daran dachte, wie es für ihn gewesen sein musste. Und sie erkannte, dass ihr erster Eindruck im Fahrstuhl vor drei Tagen richtig gewesen war. Einsamkeit und Verzweiflung. Innere Trostlosigkeit. »Sie haben sie geliebt.«
Etwas blitzte in seinen Augen. »Ja«, presste er hervor.
Sie wusste, dass er nicht von alleine weiterreden würde; sie würde fragen müssen. Aber sie war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich mehr erfahren wollte. Sie hatte selbst genügend Sorgen, ohne sich auch noch die von anderen anhören zu müssen.
Aber er hat sich um dich gekümmert, Kristen. Und das ohne eine Sekunde nachzudenken.
Und in einem Moment der Klarsicht erkannte sie, was er ihr anbot. Die Möglichkeit, Leid und Kummer zu teilen.
Eine Beziehung. Etwas, wonach sie sich sehnte. Etwas, vor dem sie zurückschreckte.
Er sah sie schweigend an, was sie nervös machte, denn es kam ihr vor, als würde er ihre Gedanken lesen. Vielleicht tat er es.
Vielleicht würde es ihm nichts ausmachen.
Der Gedanke, der sich wie ein Blitzschlag in ihr Hirn gebrannt hatte, war, wie sie wusste, kindisch und dumm, und sie verdrängte ihn augenblicklich. Nein, es
würde
ihm etwas ausmachen. Es würde einen Unterschied machen. Später schon. Aber nun wollte er reden, und sie würde ihm zuhören. Sie konnten für den Augenblick Freunde sein.
Freunde. Nicht mehr als das. Und er würde letztendlich derjenige sein, der es so wollte, nicht sie
.
Sie wusste es, noch während sie in seine intensiv blauen Augen starrte. Beide würden verletzt sein. Aber noch nicht heute Nacht. Sie riss das Sandpapier durch und reichte ihm eine Hälfte.
»Erzählen Sie mir von ihr. Debra.«
Er nahm das Sandpapier, das jämmerlich klein in seiner großen Hand aussah, und ging zur anderen Kaminseite hinüber, und sie holte tief Luft, als die Distanz zwischen ihnen wiederhergestellt war. Dann wandte auch sie sich wieder der hartnäckigen Farbe zu.
»Sie war …« Seine Stimme klang rau, dann brach sie. »Sie war alles für mich.«
Kristens Herz krampfte sich zusammen, als sie sich vorzustellen versuchte, wie es wohl war, »alles« für jemanden zu sein. Für jemanden wie ihn. Sie schmirgelte fester. »Was ist passiert?«
»Sie und ich wollten in ein Geschäft gehen. Sie stieg aus dem Wagen und wurde angeschossen.«
Sie sah ihn aus dem Augenwinkel an. Er stand einfach nur da und blickte auf das Sandpapier in seiner Hand. »War es ein Überfall?«
Seine Kiefer pressten sich zusammen. »Nein. Ein Racheakt. Irgendein Mistkerl wollte es einem frisch gebackenen Detective heimzahlen, dass er seinen Bruder verhaftet hatte.«
Sie schloss für einen Moment die Augen. Er hatte nur seinen Job getan. Jemand hatte sein Leben ruiniert, weil er seine Arbeit gemacht hatte. Wenn das keine Parallele zu ihrer jetzigen Situation war. »Erzählen Sie mir von ihr.«
»Sie hatte braune Haare und braune Augen.« Er schwieg einen Moment, und sie konnte fast spüren, wie er in der Erinnerung nach einem klaren Bild der Frau suchte, die »alles« für ihn gewesen war. »Sie war ziemlich groß«, fuhr er leise fort. »Grundschullehrerin. Sie liebte Kinder.«
»Das hört sich nach einem netten Menschen an.«
»Ja.« Sie hörte das wehmütige Lächeln in seiner Stimme, und als sie sich umwandte, sah sie, dass es sich in seinem Gesicht widerspiegelte. Er stand immer noch da, das Sandpapier in der Hand. »Sie hat mich ertragen.«
Kristen brachte sich ebenfalls zu einem Lächeln. »Das war bestimmt hart.«
Sein Lächeln verblasste. »Sie machen sich kein Bild.«
Plötzlich zu müde, um noch länger zu stehen, wandte sich Kristen vom Kamin ab. »Ich bin erledigt, Abe. Ich glaube, ich mache für heute Feierabend. Und Sie sollten auch ins Bett gehen. Bitte.«
Er wandte nur den Kopf und musterte sie von oben bis unten, eine Glut in den Augen, die ihre Müdigkeit mit einem Schlag verschwinden ließ und
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