Desire - Die Zeit Der Rache Ist Gekommen
schwarzen Ordensgewand, eilte in die Kapelle. Ihr ergrauendes Haar, das für gewöhnlich unter dem Nonnenschleier verborgen war, wirkte unordentlich und zerzaust. »Schwester Lucy! Was in Gottes Namen geht hier vor?« Ihre Röcke fegten über den glatten Fußboden, ihr Gesicht war eine Maske der Missbilligung, ihr Mund ein schmaler Strich. Plötzlich schien ihr bewusstzuwerden, wo sie sich befand, und sie schlug schnell das Kreuz über ihrem üppigen Busen.
»Es geht um Schwester Camille …« Lucia rappelte sich hoch, den Blick noch immer auf die am Boden liegende Frau gerichtet.
»Was ist denn …? Oh!« Die Mutter Oberin zog scharf die Luft ein, während sie die vordere Bankreihe umrundete. »Gott steh uns bei.« Mit wehenden Röcken eilte sie an die Seite des Opfers und ließ sich auf die Knie fallen.
»Es ist zu spät. Sie ist tot!«
»Aber wieso? Weshalb?«, flüsterte Schwester Charity, als rechnete sie mit einer Antwort von Gott persönlich. »Wer könnte das getan haben?«
»Ich weiß es nicht. Es war jemand hier, unmittelbar bevor ich gekommen bin«, sagte Lucia und versuchte, die Tatsachen von den Bildern zu trennen, die sie in ihrem Kopf gesehen hatte. »Ich habe bemerkt, wie die Tür zum Garten ins Schloss gefallen ist.« Ja, ja, das stimmte. Lucia wies auf die Seitentür. »Und … ich denke, da hat Schwester Camille noch gelebt.«
Die ältere Nonne berührte Camilles Handgelenk, hielt ihr Ohr dicht an Camilles Nase und lauschte nach einem Lebenszeichen. Lucia wusste, dass sie keins finden würde.
»Was hatten Sie eigentlich hier zu suchen, Schwester Lucy?«, fragte die Mutter Oberin plötzlich.
»Ich, ähm, ich habe etwas gehört«, log Lucia, wie schon so oft in der Vergangenheit. Niemand hier im Konvent kannte ihr Geheimnis, nicht einmal die Priester, bei denen sie die Beichte ablegte.
»Etwas gehört? Waren Sie nicht in Ihrem Zimmer?«
»Ich war unterwegs zur Toilette.«
Als würde ihr plötzlich klar, dass es momentan wichtigere Themen gab, befahl Schwester Charity, die immer noch neben Camille kniete: »Gehen Sie zu Vater Paul und sagen Sie ihm, er soll unverzüglich in die Kapelle kommen.«
»Müssen wir nicht die Polizei rufen?«
Die Mutter Oberin schloss die Augen, als ersuche sie um Geduld. »Tun Sie, was ich sage. Wenn Sie Vater Paul hergeschickt haben, begeben Sie sich in mein Büro und wählen den Notruf.«
»Aber sollten wir die Polizei nicht zuerst informieren –«
»Keine Widerrede! Das Beste, was wir für Schwester Camille tun können, ist, für ihre Seele zu beten. Und jetzt gehen Sie! Und wenn eine der anderen aufgewacht ist, schicken Sie sie zurück in ihr Zimmer!« Der Gesichtsausdruck der Mutter Oberin ließ keinerlei Widerspruch zu. Lucia drehte sich um und schritt eilig durch genau die Tür, durch die sie zuvor jemanden hatte verschwinden sehen. Die anderen Nonnen in ihre
Zimmer
zurückschicken? »Zellen« war wohl das passendere Wort. Oder Zwinger. Wie für Hunde. O Gott, sie wusste, dass sie nicht zur Nonne gemacht war. Nicht wenn sie unreine Gedanken hegte wie diese.
Mit klopfendem Herzen schloss Lucia die Tür hinter sich und sprintete los –, doch nicht in Richtung Bogengang, der zu den Wohnungen von Vater Paul und Vater Frank führte, sondern auf das Gebäude zu, aus dem sie gekommen war. Sie schlüpfte hinein und eilte die Treppe in den ersten Stock hinauf, direkt zum Büro der Mutter Oberin. Sollte sie sie ruhig bestrafen – Lucia wusste, dass Camille Vorrang hatte. Sie stieß die Tür mit dem Milchglasfenster auf und stürmte in Schwester Charitys Heiligtum.
Alles war ordentlich in Bücherregalen verstaut, die die Wände säumten: Bücher, Kerzen, Kruzifixe, eine gesunde Amaryllis mit einer üppigen weißen Blüte, ein einzelnes Bild des Papstes. Lucia umrundete den großen, abgenutzten Schreibtisch, vor dem sie unzählige Male auf einem der unbequemen Besucherstühle gesessen hatte, die Hände vor Aufregung verkrampft, während die Mutter Oberin ihr einen Vortrag über die Ausdehnung von lackiertem Walnussholz hielt. Sie griff nach dem Telefon, einem schwarzen Dinosaurier aus längst vergangenen Jahrzehnten, hob den schweren Hörer ab und wählte rasch, wobei sie ungeduldig darauf wartete, dass sich die Wählscheibe mit einem Klackern zurückdrehte.
»Hier 911. Möchten Sie einen Notfall melden?«, sagte eine Frauenstimme.
»Schwester Camille ist tot! Hier im Konvent St. Marguerite ist irgendetwas passiert – nein, in der Kapelle –, und
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