Desire - Die Zeit Der Rache Ist Gekommen
sein Stichwort.
Als die Rezeptionistin gegangen war, kehrte Schwester Charity an ihren Schreibtisch zurück und griff nach dem Hörer des schwarzen Telefons, ein Koloss, der aussah, als stammte er noch aus den Sechzigern. »Gott sei mit Ihnen«, sagte sie leise, als Cruz sich zum Gehen wandte.
Er marschierte an der unglaublich dünnen Rezeptionistin vorbei und fragte sich, wieso um alles in der Welt eine Kirche und ein Konvent so böse und abweisend wirken konnten – wo sie doch eigentlich Häuser Gottes sein sollten.
Das bildest du dir nur ein.
Er wandte sich in Richtung Ausgang, dann blieb er zögernd stehen. Gesang war zu vernehmen.
Was war das Schlimmste, was passieren konnte?
Dass die Mutter Oberin ihn am Ohr packte und nach draußen zerrte?
Na und?
Dass sie die Polizei rief?
Nein. Wessen sollte er denn beschuldigt werden? Unbefugten Eindringens? Unsinn.
Leise und ein wenig schuldbewusst, als beginge er eine Sünde, die er nicht genauer benennen konnte, folgte er den Klängen einer Hymne aus seiner Jugend. Als er um die Ecke bog, wurde die Musik lauter.
Sie drang durch eine Tür zu ihm, die nur leicht angelehnt war.
Begleitet von einem Klavierspieler, wurde das »Ave Maria« gesungen, das das kleine Musikzimmer füllte. Frauenstimmen erhoben sich in frommem Gesang.
Er spähte durch den Türspalt.
Eine Gruppe von etwa zwanzig Nonnen, alle in schwarzer Ordenstracht, hatte sich auf den Chorstufen versammelt und sang mehrstimmig. Ihre Blicke waren auf die Frau gerichtet, die sie dirigierte – eine große Nonne, die mit dem Rücken zur Tür stand.
Lucia Costa befand sich vorn in der Mitte, ihre Stimme ertönte hell und klar.
Cruz’ Brust wurde eng. Sie hatte sich nicht sehr verändert, war immer noch klein und zierlich, ihr Gesicht faltenlos. Ihre großen Augen wurden von dichten Wimpern und geschwungenen Augenbrauen umrahmt, und sie hatte hohe Wangenknochen und ein ausgeprägtes Kinn.
Vor seinem inneren Auge sah er sie in dem verbeulten Metallkäfig, der sein Auto gewesen war, Blut strömte über eine Hälfte ihres Gesichts und verklebte ihr schwarzes Haar. Ihre Augen waren nach oben verdreht. Später, im Krankenhaus, war sie aus dem Koma erwacht, gerade für eine Sekunde, und hatte ihm voller Schmerz ins Ohr geflüstert: »Gefahr.« Dann war sie wieder weggetreten.
Schuldgefühle übermannten ihn, die Narbe, die seine Augenbraue teilte, pochte.
In diesem Augenblick schweifte Lucias Blick von der Chorleiterin zur Tür. Ihre Augen weiteten sich, als sie Cruz entdeckte, und sie verfehlte den richtigen Ton. Die beiden Nonnen neben ihr, eine große Afroamerikanerin und eine kleinere Frau mit einer dicken Brille, warfen ihr einen tadelnden Blick zu.
Lucia wurde blass und versuchte, ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Dirigentin zu richten, die mit ihrem Taktstock auf den Notenständer klopfte. Abrupt brach das Klavierspiel ab, und die Stimmen verstummten.
»Bitte, Schwestern«, sagte die Chorleiterin scharf. »Soprane? Stimmt etwas nicht? Schwester Lucy?«
»Alles in Ordnung«, antwortete Lucia. Ihre Stimme klang so vertraut, als wäre er erst gestern mit ihr zusammen gewesen. »Ich … ich habe lediglich den Faden verloren.«
»Dann konzentrier dich!« Wieder das Klopfen mit dem Taktstock. »Vom Refrain an«, sagte die Dirigentin. Ein Klavierakkord hallte durchs Zimmer und hinaus auf den Gang, und die Frauen fingen erneut an zu singen.
Er beschloss zu warten.
Warum nicht?
Noch einmal: Das Schlimmste, was ihm passieren konnte, war, dass man ihn rauswerfen würde. Schwester Charity war vielleicht eine Autoritätsperson, aber sie war nicht die Gestapo.
Cruz verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich in der Nähe der Tür mit der Schulter an die Wand.
Etwa zwanzig Minuten später verstummte der Gesang, und Cruz hörte das Scharren von Füßen. Die Tür öffnete sich weiter, und Nonnen strömten auf den Gang hinaus, ein kleiner Umzug von schwarzen Ordenstrachten, Nonnenschleiern und weißen Brusttüchern. In dieser Aufmachung konnte Cruz kaum Lucia in der Menge ausmachen.
Bei seinem Anblick blieben einige von ihnen wie angewurzelt stehen.
»Ich bin Schwester Irene. Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ihn eine große Frau mit neugierigen grauen Augen.
»Ich würde gern mit Schwester Lucy sprechen«, sagte Cruz und entdeckte Lucia, die aussah, als wäre sie am liebsten im gebohnerten Fußboden versunken.
»Das verstößt in höchstem Maße gegen die Regeln«, belehrte ihn eine klug
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