Désirée
Ich –« Eine Tapetentür, die ich bisher gar nicht bemerkt hatte, öffnete sich einen Spalt weit. Napoleon bemerkte es nicht. »Die Tapetentür öffnet sich«, sagte ich. Napoleon wandte sich um. »Was gibt es, Constant?« Im Tapetenspalt tauchte ein Männchen in Lakaienuniform auf. Das Männchen gestikulierte. Napoleon trat einen Schritt näher. Das Männchen flüsterte aufgeregt: »– will nicht länger warten, lässt sich nicht beruhigen!« »Soll sich wieder anziehen und nach Hause gehen«, hörte ich Napoleon sagen. Die Tapetentür schloss sich geräuschlos. Es wird Mademoiselle George vom Théâtre Français sein, fiel mir ein. Ganz Paris weiß, dass Napoleon Josephine früher mit der Sängerin Grassini betrog und jetzt mit seiner »Georgina«, der sechzehnjährigen Schauspielerin George, befreundet ist. »Ich will nicht länger stören«, sagte ich und stand schnell auf. »Ich habe sie doch weggeschickt, jetzt dürfen Sie mich nicht allein lassen«, kam es sofort, und ich wurde wieder niedergedrückt. Seine Stimme wurde zärtlich. »Du hast mich um etwas gebeten, Eugénie. Zum ersten Mal im Leben hast du mich um etwas gebeten.« Ich schloss erschöpft die Augen. Sein ständiger Stimmungswechsel zermürbte mich. Die Hitze des Raumes war kaum zum Aushalten. Gleichzeitig ging eine fiebernde Unruhe von ihm aus, die mich ganz krank machte. Seltsam, dass ich nach all den Jahren noch jede Stimmung, jedes Gefühl dieses Mannes empfinden konnte. Erüberlegt, wusste ich, er versucht zu entscheiden, er kämpft mit sich selbst. Ich darf jetzt nicht weggehen, vielleicht gibt er nach, lieber Gott, vielleicht gibt er nach … »Aber du weißt gar nicht, was du verlangst, Eugénie! Es geht doch nicht um diesen gleichgültigen Enghien. Ich muss endlich diesen Bourbonen, ich muss der ganzen Welt beweisen, wie Frankreich fühlt. Das französische Volk wird selbst seinen Herrscher wählen –« Ich hob den Kopf. »Freie Bürger einer freien Republik werden zur Wahlurne schreiten.« Deklamiert er ein Gedicht, übt er eine Rede ein? Da stand er schon wieder vor dem Schreibtisch und hielt das Schriftstück in der Hand. Wie ein riesiger Blutstropfen klebte das Siegel daran. »Sie haben mich gefragt, wer mich heute Nacht zu Ihnen geschickt hat«, sagte ich sehr laut. »Bevor Sie eine Entscheidung treffen, will ich Ihnen diese Frage beantworten.«
Er sah nicht auf: »Ja? Ich höre.«
»Ihre Mutter.«
Langsam ließ er den Bogen sinken. Ging auf den Kamin zu, bückte sich und legte ein Holzscheit nach. »Ich wusste nicht, dass sich meine Mutter mit Politik beschäftigt«, murmelte er. »Man hat sie wahrscheinlich geplagt und gedrängt –«
»Ihre Mutter betrachtet das Todesurteil nicht als politische Frage.« »Sondern?«
»Als Mord.«
»Eugénie! Jetzt bist du zu weit gegangen!«
»Ihre Mutter hat mich so innig gebeten, mit Ihnen zu sprechen. Weiß Gott, das ist kein Vergnügen!« Der Schatten eines Lächelns huschte über sein Gesicht. Dann begann er in den Mappen und Schriftstücken, die sich auf dem kleinen Tischchen auftürmten, zu kramen. Endlich hatte er gefunden, was er suchte. Er rollte einen großen Zeichenbogen auf und hielt ihn mir unter die Nase. »Wiefindest du das? Ich habe es noch niemandem gezeigt!« In der oberen Ecke war eine große Biene aufgezeichnet. Und in der Mitte ein Quadrat skizziert, das mit kleinen Bienen in regelmäßigen Abständen ausgefüllt worden war. »Bienen?«, sagte ich erstaunt. »Ja, Bienen«, nickte er befriedigt. »Weißt du, was sie bedeuten?« Ich schüttelte den Kopf. »Es ist ein Emblem«, sagte Napoleon. »Ein Emblem? Was wollen Sie denn damit schmücken?« Weite Armbewegung: »Alles. Die Wände, die Teppiche, die Vorhänge, die Livreen, die Hofkaleschen, den Krönungsmantel des Kaisers –« Ich zog scharf den Atem ein. Er stockte. Sah mich an. Ganz tief tauchten seine Augen in meine. »Verstehst du mich – Eugénie, kleine Braut?« Ich spürte mein Herz in harten Stößen schlagen. Und schon entrollte er ein anderes Zeichenblatt. Löwen in allen möglichen Stellungen. Ruhende Löwen, springende Löwen, geduckte Löwen. Quer über dem Blatt stand in Napoleons Schrift: »Ein ausgebreiteter Adler!« »Ich habe den Maler David beauftragt, das Wappen zu entwerfen.« Die Löwen wurden achtlos auf den Fußboden geworfen, jetzt hielt er mir die Zeichnung eines Adlers mit ausgebreiteten Schwingen entgegen. »Dafür habe ich mich entschieden. Gefällt es dir?« Es war jetzt so heiß im
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