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Désirée

Désirée

Titel: Désirée Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annemaire Selinko
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könnte, kam völlig unvorhergesehen. Ich trat auf ihn zu und legte meine Hände gegen seine Brust. »Jean-Baptiste«, sagte ich, »es steht doch nicht dafür, sich wegen einer Laune Napoleons so zu ärgern.« Aber er stieß meine Hände weg. »Du weißt genau, was geschehen ist«, keuchte er, »du weißt es ganz genau. Die Leute sollen glauben, dass er die kleine Braut von einst auszeichnet. Aber ich sage dir, dass er dieses ›einst‹ längst vergessen hat! Als Mann sage ich es dir. Nur die Gegenwart interessiert ihn. Verliebt ist er in dich, eine Freude will er dir machen, damit du –«
    »Jean-Baptiste!«
    Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Verzeih, du kannst ja wirklich nichts dafür«, murmelte er. Im gleichen Augenblick erschien Fernand und setzte die Suppenterrine auf den Tisch. Schweigend nahmen wir einander gegenüber Platz. Jean-Baptistes Hand, die den Löffel zum Munde führte, zitterte. »Ich werde an den Krönungsfeierlichkeiten überhaupt nicht teilnehmen, sondern mich ins Bett legen und krank sein«, sagte ich. Jean-Baptiste gab keine Antwort. Nach dem Essen verließ er das Haus.
    Während ich jetzt an meinem Schreibtisch sitze und schreibe, versuche ich herauszufinden, ob Napoleon wirklich wieder in mich verliebt ist. In jener endlosen Nacht in seinem Arbeitszimmer, bevor der Herzog von Enghien erschossen wurde, hat er mit der Stimme von einst zu mir gesprochen. »Nehmen Sie doch den Hut ab, Madame …« und etwas später: »Eugénie. Kleine Eugénie …« Mademoiselle George wurde fortgeschickt. Ich glaube, dass er sich in jener Nacht an die Hecke in unserem Garten in Marseille erinnert hat. An die schlafende Wiese und an die Sterne, die so nahe waren. Wie seltsam, dass der kleine Bonaparte von der Hecke in zwei Tagenzum Kaiser der Franzosen gekrönt wird, und ganz unvorstellbar, dass es eine Zeit in meinem Leben gegeben hat, in der ich nicht zu meinem Bernadotte gehörte … Die Uhr im Esszimmer schlägt Mitternacht. Vielleicht ist Jean-Baptiste bei Madame Récamier zu Besuch, er spricht so oft von ihr. Juliette Récamier ist mit einem alten reichen Bankdirektor verheiratet und liest alle Bücher, die gedruckt werden, und auch solche, die nicht gedruckt werden, und liegt den ganzen Tag lang auf einem Sofa. Sie fühlt sich als Muse aller berühmten Männer, dabei lässt sie sich von keinem küssen. Und schon gar nicht von ihrem eigenen Mann, behauptet Polette. Jean-Baptiste spricht oft mit dieser Seelenfreundin über Bücher und Musik, und manchmal schickt sie mir langweilige Romane und bittet mich, diese Meisterwerke zu lesen. Ich hasse und bewundere die Récamier sehr. Halb eins. Jetzt knien Napoleon und Josephine wahrscheinlich in der Schlosskapelle der Tuilerien, und Onkel Fesch vollzieht die kirchliche Trauung. Wie leicht könnte ich Jean-Baptiste erklären, warum Napoleon mich nicht vergisst, aber es würde ihn nur ärgern. Ich bin eben ein Teil von Napoleons Jugend. Und kein Mensch vergisst seine Jugend, auch wenn man nur selten zurückdenkt. Wenn ich in Himmelblau im Krönungsaufzug auftauche, dann bin ich für Napoleon nicht mehr als eine Erinnerung. Aber es ist natürlich möglich, dass Jean-Baptiste Recht hat und dass Napoleon diese Erinnerung gern auffrischen möchte. Eine Liebeserklärung von Napoleon wäre Balsam auf eine längst verheilte Wunde. Morgen bleibe ich im Bett und leide an einer schweren Erkältung, und auch übermorgen. Die himmelblaue Erinnerung Seiner Majestät hat Schnupfen und lässt sich entschuldigen … gestern Nacht – nein, eigentlich war es schon heute – bin ich über meinem Buch eingeschlafen. Ich wachte erst auf, als mich jemand sanft in die Höhe zogund auf die Arme nahm und hinauf ins Schlafzimmer trug. Die Metallschnüre von Epauletten zerkratzten wie so oft meine Wange. »Du warst bei deiner Seelenfreundin, ich kränke mich sehr …«, murmelte ich verschlafen. »Ich war in der Oper, kleines Mädchen, und zwar ganz allein. Ich wollte anständige Musik hören. Dann habe ich den Wagen fortgeschickt und bin zu Fuß nach Hause gegangen.« »Ich liebe dich sehr, Jean-Baptiste. Und ich bin schwer krank und habe Schnupfen und Halsweh und kann an den Krönungsfeierlichkeiten nicht teilnehmen.« »Ich werde Madame Bernadotte beim Kaiser entschuldigen.« Und nach einer Weile: »Du darfst nie vergessen, dass ich dich sehr liebe, kleines Mädchen. Hörst du mich oder schläfst du schon?«
    »Ich träume, Jean-Baptiste. Was macht man, wenn einem jemand

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