Désirée
jemanden gefunden zu haben, auf den er hinabsehen konnte. Es dämmerte, und die blassblaue Frühlingsdämmerung schob sich wie eine Wand zwischen uns und Julie und Joseph. Das Gesicht des Generals war so nahe, dass ich seine Augen sehen konnte, sie glitzerten, und ich stellte erstaunt fest, dass auch Männer lange Wimpern haben können. »Vor mir dürfen Sie niemals Geheimnisse haben, Mademoiselle Eugénie. Ich kann nämlich kleinen Mädchen bis tief ins Herz hineinsehen. Und außerdem hat mir Joseph bereits gestern Abend erzählt, dass Sie ihm versprochen haben, ihn Ihrer großen Schwester vorzustellen. Und bei dieser Gelegenheit haben Sie ihmgesagt, dass Ihre Schwester sehr hübsch ist. Sie haben nicht die Wahrheit gesagt und – Ihre kleine Unwahrheit dürfte einen ganz bestimmten Grund haben.« »Wir müssen weitergehen, die anderen sind sicher schon beim Gartenhäuschen«, stieß ich hervor. »Wollen wir nicht Ihrer Schwester die Möglichkeit geben, meinen Bruder etwas näher kennen zu lernen, bevor sie sich mit ihm verlobt?«, fragte er leise. Seine Stimme klang ganz weich, beinahe wie – ja, beinahe wie eine Liebkosung. Viel seltener als bei seinem Bruder schlich sich fremdartige Aussprache in seine Rede. »Joseph wird nämlich sehr bald um die Hand Ihrer Schwester anhalten«, teilte er mir dann seelenruhig mit. Es war so dunkel geworden, dass ich sein Gesicht nur verschwommen sehen konnte, aber ich spürte, dass er lächelte. »Woher wissen Sie das?«, fragte ich verlegen. »Wir haben es gestern Abend besprochen«, antwortete er, als ob dies die natürlichste Sache der Welt wäre. »Gestern Abend kannte doch Ihr Bruder meine Schwester noch gar nicht«, antwortete ich empört. Da nahm er ganz leicht meinen Arm, und ich spürte seine Berührung mit meinem ganzen Körper. Langsam gingen wir weiter, und er sprach so zärtlich und vertraulich zu mir, als ob wir seit Jahren Freunde wären. »Joseph hat mir von seiner Begegnung mit Ihnen erzählt und auch, dass Ihre Familie sehr wohlhabend ist. Ihr Vater ist zwar nicht mehr am Leben, aber ich nehme an, dass er Ihnen und Ihrer Schwester eine größere Mitgift hinterlassen hat. Unsere Familie dagegen ist sehr arm.« »Sie haben auch Schwestern, nicht wahr?« Mir fiel ein, dass Joseph gestern Schwestern in meinem Alter erwähnt hatte. »Noch drei jüngere Brüder und drei jüngere Schwestern«, sagte er. Und Joseph und ich müssen für Mama und alle Geschwister sorgen. Mama erhält zwar eine winzige Staatspension, weil sie als verfolgte Patriotin gilt, seitdem sie von Korsika flüchten musste. Aber diese Pension reicht nicht einmalfür die Miete. Sie wissen gar nicht, Mademoiselle Eugénie, wie teuer das Leben momentan in Frankreich ist.« »Ihr Bruder will also meine Schwester nur wegen ihrer Mitgift heiraten?« Ich versuchte, sachlich und überlegen zu sprechen, aber meine Stimme zitterte vor Empörung und Schmerz. »Aber was fällt Ihnen ein, Mademoiselle Eugénie! Ich finde, dass Ihre Schwester ein sehr liebenswürdiges Mädchen ist, so freundlich und bescheiden, so hübsche Augen … Ich bin überzeugt davon, dass sie Joseph sehr gut gefällt. Die beiden werden sehr glücklich miteinander werden.« Gleichzeitig beschleunigte er seine Schritte. Das Thema schien für ihn erledigt zu sein. »Ich werde Julie sagen, was Sie mir eben verraten haben«, drohte ich. »Natürlich. Deshalb habe ich Ihnen doch alles so genau auseinander gesetzt. Sagen Sie es Julie, damit sie weiß, dass Joseph bald um ihre Hand anhalten wird!« Eine Sekunde lang war ich wie vor den Kopf geschlagen. Wie unverschämt, dachte ich nur, wie unverschämt! Und ich hörte in Gedanken Etiennes Stimme: korsische Abenteurer! »Darf ich fragen, warum Ihnen persönlich so sehr an der Hochzeit Ihres Bruders gelegen ist?«
»Pst, nicht so laut. Sie werden verstehen, Mademoiselle Eugénie, dass ich, bevor ich das italienische Oberkommando übernehme, meine Familie in etwas geordneteren Verhältnissen wissen möchte. Joseph interessiert sich übrigens für Politik und Literatur. Vielleicht kann er auf einem dieser Gebiete etwas erreichen, wenn er sich nicht mehr in kleinen Stellungen herumdrücken muss. Nach meinen ersten italienischen Siegen werde ich natürlich für meine ganze Familie sorgen.« Er machte eine Pause. »Und – ich werde gut für sie sorgen, Mademoiselle, das können Sie mir glauben!« Als wir beim Gartenhäuschen anlangten, sagte Julie: »Wo waren Sie nur so lange mit der Kleinen,
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