Désirée
Hecke erreiche, so weiß ich, dass mich Napoleone absichtlich gewinnen lässt. Die Hecke geht mir gerade bis zur Brust. Gewöhnlich lehnen wir dicht nebeneinander an der Blätterwand, ich stütze die Arme auf und schaue die Sterne an. Und dann führen Napoleone und ich lange Gespräche. Zum Beispiel über »Die Leiden des jungen Werther«, den Roman eines unbekannten deutschenDichters, der Goethe heißt, und den momentan alle Leute auf dem Nachttisch liegen haben. (Den Roman meine ich, nicht den Dichter!) Ich musste das Buch heimlich lesen, weil Mama nicht leiden kann, dass ich Liebesromane studiere. Aber ich war von dem Buch etwas enttäuscht. Es ist die unglaublich traurige Geschichte eines jungen Mannes, der sich erschießt, weil das Mädchen, das er liebt, seinen besten Freund heiratet. Napoleone dagegen ist von dem Buch ganz begeistert. Ich habe ihn gefragt, ob er sich vorstellen könnte, sich aus unglücklicher Liebe zu erschießen.
»Nein, denn ein Mädchen, das ich liebe, heiratet eben keinen anderen«, sagte er und lachte. Aber dann wurde er plötzlich ernst und sah mich an, und ich sprach schnell von etwas anderem.
Oft jedoch lehnen wir auch lange Zeit stumm nebeneinander und beobachten die schlafende Wiese auf der anderen Seite der Hecke. Je stiller wir sind, umso näher sind wir ihr. Dann ist mir, als ob man das Gras und die Blumen atmen hören könnte. Ab und zu schluchzt irgendwo ein Vogel auf. Wie ein gelber Lampion hängt der Mond am Himmel, und während ich die schlafende Wiese anschaue, denke ich: Lieber Gott, lass diesen Abend nicht vorübergehen, lieber Gott, lass mich immer neben ihm lehnen … Denn obwohl ich gelesen habe, dass es keine überirdischen Mächte gibt und die Regierung in Paris der menschlichen Vernunft einen Altar errichtet hat, so denke ich immer, wenn ich sehr traurig oder sehr glücklich bin: lieber Gott.
»Hast du niemals Angst vor deinem Schicksal, Eugénie?«, fragte Napoleone gestern unvermittelt. Wenn wir allein mit der schlafenden Wiese sind, sagt er manchmal du, obwohl sich nicht einmal Brautleute oder Ehepaare duzen.
»Angst vor meinem Schicksal?« Ich schüttelte denKopf. »Nein, ich habe keine Angst. Man weiß doch nicht, was einem bevorsteht. Warum soll man sich denn vor etwas Unbekanntem fürchten?«
»Seltsam, dass die meisten Menschen behaupten, ihr Schicksal nicht zu kennen«, sagte er. Sein Gesicht war sehr blass im Mondlicht, er starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Weite. »Ich zum Beispiel spüre mein Schicksal. Meine Bestimmung.« »Und – haben Sie Angst davor?«, fragte ich erstaunt. Er schien nachzudenken. Dann kam es schnell und stoßweise: »Nein. Ich weiß, dass ich sehr Großes vollbringen werde. Ich bin dazu geschaffen, Staaten aufzubauen und zu lenken. Ich gehöre zu jenen Männern, die Weltgeschichte machen.« Ich starrte ihn verblüfft an. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass jemand solche Dinge denkt und ausspricht. Plötzlich begann ich zu lachen. Bei meinem Kichern zuckte er zusammen, und sein Gesicht verzerrte sich. Jäh wandte er sich zu mir:
»Du lachst?«, flüsterte er. »Eugénie – du lachst?«
»Verzeihen Sie, bitte – verzeihen Sie«, sagte ich, »aber es war nur, weil – ja, ich bekam plötzlich Angst vor Ihrem Gesicht, es war so weiß im Mondlicht und – so fremd. Wenn ich Angst habe, versuche ich immer – zu lachen.«
»Ich wollte dich nicht erschrecken, Eugénie«, sagte er, und seine Stimme wurde zärtlich. »Ich kann verstehen, dass du Angst bekommen hast. Angst – vor meinem großen Schicksal.« Wieder schwiegen wir ein Weilchen. Plötzlich fiel mir etwas ein. »Übrigens werde ich auch Weltgeschichte machen, Napoleone!« Er sah mich erstaunt an. Aber ich versuchte unbeirrt, meine Gedanken auszudrücken. »Die Weltgeschichte besteht doch aus den Schicksalen aller Menschen, nicht wahr? Nicht nur Leute, die Todesurteile unterschreiben oder genau wissen, wo man Kanonen aufstellt und wie man sie abschießt, machen Weltgeschichte. Ich glaube, dass auch die anderen – ichmeine, jene Menschen, die geköpft werden oder auf die man die Kanonen richtet und – überhaupt alle Männer und Frauen, die leben und hoffen und lieben und sterben, Weltgeschichte machen.«
Er nickte langsam. »Richtig, kleine Eugénie, vollkommen richtig. Aber ich werde in diese Millionen und Millionen Schicksale, von denen du sprichst, eingreifen.«
»Wie seltsam …«
»Nicht wahr? Seltsam, diese großen Möglichkeiten vor sich
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