Désirée
eine Ewigkeit vergangen zu sein seit jenem Augenblick, in dem ich Joseph und Napoleone zum ersten Mal in unserem Wohnzimmer sitzen sah. Bei Julies und meinem Eintritt sprangen beide auf und verbeugten sichüberhöflich – nicht nur vor Julie, auch vor mir. Dann saßen wir alle steif und ungemütlich um den ovalen Mahagonitisch herum. Mama auf dem Sofa, daneben Joseph Buonaparte. Auf der anderen Seite der armselige General auf dem unbequemsten Stuhl unseres Hauses, Etienne neben ihm. Julie und ich zwischen Mama und Etienne.
»Ich habe Bürger Buonaparte eben für die Liebenswürdigkeit gedankt, mit der er dich gestern nach Hause brachte, Eugénie«, sagte Mama. In diesem Augenblick erschien Marie mit Likör und Julies Kuchen. Während Mama die Gläser voll schenkte und den Kuchen anschnitt, bemühte sich Etienne, Konversation zu machen. »Ist es indiskret, wenn ich frage, ob Sie gegenwärtig dienstlich in unserer Stadt weilen, Bürger General?«, wandte er sich an seinen Nachbar. An Stelle des Generals antwortete Joseph eifrig: »Nicht im Geringsten. Die Armee der französischen Republik ist eine Volksarmee und wird von den Steuern der Bürger erhalten. Jeder Bürger hat daher das Recht, Bescheid über die Maßnahmen unseres Heeres zu wissen. Habe ich nicht Recht, Napoleone?« Der Name Napoleone klang sehr fremdartig. Unwillkürlich sahen wir alle den General an. »Sie können fragen, so viel Sie Lust haben, Bürger Clary«, sagte der General. »Ich zumindest mache kein Geheimnis aus meinen Plänen. Meiner Ansicht nach verschwendet die Republik nur ihre Kräfte in diesem ewigen Verteidigungskrieg an den Grenzen. Verteidigungskriege bereiten nur Kosten und bringen weder Ruhm noch die Möglichkeit, unsere Staatskassen zu füllen. Danke vielmals, Madame Clary, besten Dank –« Mama hatte ihm seinen Teller mit Kuchen gereicht. Und sofort wieder zu Etienne gewandt: »Wir müssen selbstverständlich zu einem Angriffskrieg übergehen. Damit wird Frankreichs Finanzen geholfen und Europa bewiesen werden, dass die Volksarmee der Republik nicht geschlagen ist.« Ich hattezwar zugehört, aber den Inhalt seiner Worte gar nicht erfasst. Der General hatte seinen großen Hut im Vorraum gelassen, und ich konnte daher sein Gesicht genau sehen. Und obwohl es kein schönes Gesicht ist, so erscheint es mir doch wunderbarer als alle Gesichter, die ich je gesehen oder von denen ich je geträumt habe. Auf einmal begriff ich auch, warum mir Joseph Buonaparte gestern so gut gefallen hatte. Die Brüder sehen einander sehr ähnlich. Aber Josephs Züge sind weicher, unausgesprochener als die Napoleones. Sie verraten nur die Möglichkeit seines Gesichtes, von dem mir schien, als ob ich es herbeigesehnt hätte. Napoleones Gesicht ist die Erfüllung dieser Möglichkeit. »Angriffskrieg …?«, hörte ich jetzt Etienne verblüfft fragen. Es war ganz still im Zimmer geworden, und ich begriff, dass dieser junge General irgendetwas Erstaunliches gesagt haben musste. Etienne blickte ihn nämlich völlig entgeistert an. »Ja, aber Bürger General – hat denn unsere Armee, von der es heißt, dass ihre Equipierung überaus bescheiden –« Der General machte eine Handbewegung und lachte: »Bescheiden? Das ist nicht der richtige Ausdruck! Wir haben eine Bettlerarmee. An den Grenzen stehen unsere Soldaten in Lumpen, in die Schlacht marschieren sie in Holzpantinen. Und unsere Artillerie ist so jammervoll ausgerüstet, dass man glauben sollte, Kriegsminister Carnot wird Frankreich nächstens mit Pfeil und Bogen statt mit Kanonen verteidigen.« Ich lehnte mich vor und starrte ihn an. Nachher sagte mir Julie, dass ich mich unmöglich benommen habe. Aber ich konnte nicht anders. Besonders, weil ich immerzu wartete, ob er wieder lachen werde. Er hat ein mageres Gesicht mit sehr gespannter, sonnverbrannter Haut, das von rotbraunen Haaren eingerahmt wird. Die Haare hängen unfrisiert bis zur Schulter und sind überhaupt nicht gepudert. Wenn er lacht, wirkt sein gespanntes Gesicht plötzlich sehrknabenhaft und noch viel jünger, als es in Wirklichkeit ist. Ich zuckte zusammen, weil jemand »Ihre Gesundheit, Mademoiselle Clary« zu mir sagte. Alle hatten ihre Gläser erhoben und nippten am Likör. Joseph neigte mir zwinkernd sein Glas entgegen, und mir fiel ein, was wir besprochen hatten. »Nennen Sie mich doch Eugénie wie alle anderen«, schlug ich vor. Mama hob irritiert die Augenbrauen, aber Etienne hörte es gar nicht, so vertieft war er in sein Gespräch mit
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