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Désirée

Désirée

Titel: Désirée Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annemaire Selinko
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späten Nachmittag. Etienne, der für gewöhnlich um diese Stunde noch nicht zu Hause ist, hatte früher im Geschäft Schluss gemacht und saß mit Mama im Wohnzimmer, damit die beiden jungen Herren sofort sehen sollten, dass sich männlicher Schutz in unserem Heim befindet. Man hatte den ganzen Tag über nicht viel mit mir gesprochen, und ich spürte, dass man sich noch immer über mein unpassendes Benehmen ärgerte. Julie war nach dem Mittagessen in der Küche verschwunden, weil sie plötzlich einen Kuchen backen wollte. Mama meinte zwar, dies sei nicht notwendig. Die Worte »korsische Abenteurer«, die Etienne geprägt hatte, gingen ihr nicht aus dem Kopf. Ich trieb mich eine Weile im Garten herum, es roch bereits stark nach Frühling, und an den Fliederbüschen fand ich die ersten Knospen. Dann ließ ich mir von Marie einen Fetzen geben und begann die Möbel im Gartenhäuschen abzuwischen. Auf alle Fälle,dachte ich. Als ich das Tuch zurückgab, sah ich Julie in der Küche. Sie zog gerade eine Kuchenform aus dem Backofen, hatte rote Flecken im Gesicht, kleine Schweißperlen auf der Stirn und eine Frisur, die völlig in Auflösung begriffen war. »Du packst das Ganze verkehrt an, Julie«, sagte ich unwillkürlich. »Wieso? Ich habe den Kuchen genau nach Mamas Rezept gebacken, und du wirst sehen, dass er unseren Gästen schmecken wird.«
    »Ich meine nicht den Kuchen«, sagte ich, »sondern dein Gesicht und deine Frisur. Wenn die Herren kommen, wirst du nach Küche riechen und –« Ich unterbrach mich: »Herrgott, lass doch den Kuchen, Julie! Geh lieber in unser Zimmer und pudere deine Nase, das ist viel wichtiger als deine Kuchenbackerei!«
    »Was sagen Sie zu dem Kind, Marie!«, rief Julie ärgerlich und sah sich nach Marie um. »Wenn Sie es mir nicht übel nehmen, Mademoiselle Julie, so glaube ich, dass das Kind Recht hat«, sagte Marie und nahm ihr die Kuchenform aus der Hand. Während sich Julie in unserem Zimmer frisierte und vorsichtig etwas Rouge auflegte, hing ich aus dem Fenster und beobachtete die Straße. »Ziehst du dich nicht um?«, fragte Julie erstaunt. Aber das erschien mir nicht wichtig zu sein. Natürlich gefiel mir Monsieur Joseph sehr gut, aber ganz im Geheimen hatte ich ihn bereits mit Julie verlobt. Was jedoch seinen Bruder, den General, betraf, so konnte ich mir nicht vorstellen, dass er überhaupt Notiz von mir nehmen würde. Ich wusste auch gar nicht, was man mit einem General redet. Mich interessierte nur die Uniform, außerdem hoffte ich, er würde etwas von den Schlachten bei Valmy und Wattignies erzählen. Hoffentlich ist Etienne höflich und freundlich zu ihnen, dachte ich die ganze Zeit, hoffentlich nimmt die Sache ein gutes Ende. Während ich aus dem Fenster lehnte, bekam ich nämlich Lampenfieber. Und dann sah ich sie kommen! In eineifriges Gespräch vertieft, kamen sie die Straße entlang. Und ich war grenzenlos enttäuscht! Nein, so etwas: Klein war er, kleiner als Monsieur Joseph, und dabei ist der nur mittelgroß. Und gar nichts glitzerte an ihm, weder Ordenssterne noch Ordensschleifen! Erst als sie vor unserem Haus angelangt waren, sah ich, dass er schmale goldene Epauletten trug. Seine Uniform war dunkelgrün, und die hohen Stiefel glänzten nicht und saßen auch gar nicht stramm. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, es war von einem riesigen Hut verdeckt, der nur mit einer Kokarde der Republik geschmückt war. Ich habe nicht geahnt, dass ein General so schäbig aussehen kann. Ich war grenzenlos enttäuscht. »Der schaut sehr armselig aus«, murmelte ich. Julie war neben mich getreten, hielt sich jedoch hinter der Gardine verborgen, sie wollte wahrscheinlich nicht, dass die beiden Bürger herausfanden, wie neugierig sie war. »Wieso? Er sieht doch sehr hübsch aus!«, bemerkte sie. »Du kannst nicht von einem Sekretär im Maison Commune erwarten, dass er sich weiß Gott wie herausputzt!«
    »Ach so, du meinst Monsieur Joseph! Ja, der sieht ganz elegant aus, zumindest scheint ihm jemand regelmäßig die Schuhe zu bürsten. Aber sein kleiner Bruder, der General!« Ich schüttelte seufzend den Kopf. »Eine Riesenenttäuschung! Ich hab gar nicht gewusst, dass es so klein gewachsene Offiziere in der Armee gibt.« »Wie hast du ihn dir eigentlich vorgestellt?«, wollte Julie wissen. Ich zuckte die Achseln. »Wie einen General eben. Wie einen Mann, bei dem man das Gefühl hat, dass er wirklich kommandieren kann.«
    Seltsam: Das alles ist doch erst zwei Monate her, und doch scheint

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