Désirée
zu sehen!«
»Nein, ich meine, wie seltsam, dass Sie sich dies wünschen, Napoleone«, sagte ich, und auf einmal erschien er mir ganz fremd. Im gleichen Augenblick jedoch lächelte er, und die plötzliche Verwandlung seines Gesichtes ließ ihn wieder vertraut werden. »Du glaubst an mich, Eugénie, nicht wahr? Was immer auch geschieht?« Sein Gesicht war ganz nahe. So nahe, dass ich plötzlich zitterte und unwillkürlich die Augen schloss. Da spürte ich seinen Mund ganz hart auf meinen Lippen. Meine Lippen wollten nachgeben, aber ich presste sie schnell zusammen, weil ich plötzlich daran dachte, dass Julie mich immer auszankt, wenn ich ihr einen zu nassen Kuss auf die Wange klatsche. Und ich wollte doch so küssen, dass es ihm angenehm und wohlerzogen erschien. Aber sein Mund war so hart und forderte und – ich weiß nicht, wie es geschah, ich wollte es gewiss nicht – aber plötzlich gaben meine Lippen nach und öffneten sich. Nachts, lange, nachdem Julie das Licht ausgeblasen hatte, konnte ich noch nicht einschlafen. Da kam Julies Stimme aus dem Dunkel: »Kannst du auch nicht schlafen, Kleines?«
»Nein. Es ist so warm im Zimmer«, seufzte ich. »Ich muss dir nämlich etwas verraten«, flüsterte Julie. »Ein ganz großes Geheimnis, du darfst es niemandem sagen. Zumindest nicht bis morgen Nachmittag. Schwörst du?«
»Bei Mamas Leben und deinem Leben und meinem eigenen«, sagte ich aufgeregt. Das ist der größte Schwur, den ich kenne. »Morgen Nachmittag wird Monsieur Joseph Buonaparte mit Mama sprechen.« Ich war grenzenlos enttäuscht. »Mit Mama sprechen? Worüber denn?« Julie wurde ärgerlich. »Herrgott, bist du dumm! Über uns natürlich – über ihn und mich. Er will – ach, du bist noch so jung und kindisch – er will um meine Hand anhalten!« Mit einem Ruck setzte ich mich auf. »Julie! Dann bist du ja – verlobt?«
»Pst, nicht so laut! Morgen Nachmittag werde ich mich verloben. Wenn Mama nichts dagegen hat. Morgen Nachmittag –« Ich sprang aus dem Bett und lief zu ihr hinüber. Polternd krachte ich gegen einen Stuhl. »Au, au weh …!« Ich hatte mir die Zehen angeschlagen. »Pst, Eugénie – du weckst ja das ganze Haus auf!« Aber ich war schon bei ihr. Schnell kroch ich unter ihre warme Decke und rüttelte aufgeregt ihre Schultern und wusste gar nicht, wie ich ihr zeigen sollte, dass ich mich freute. »Du bist eine Braut …«, wiederholte ich immerfort. »Eine richtige Braut. Hat er dich schon geküsst?« »So etwas fragt man nicht«, erklärte Julie ärgerlich. Dann schien ihr einzufallen, dass sie ihrer kleinen Schwester ein gutes Beispiel geben musste, und sie fügte hinzu: »Merk dir, ein junges Mädchen lässt sich erst dann küssen, wenn seine Mama der Verlobung zugestimmt hat. Übrigens bist du noch viel zu jung, um über diese Dinge nachzudenken!«
Es war so dunkel, dass wir einander nicht in die Augen sehen konnten. Ich bin überzeugt davon, dass Julie nicht die Wahrheit sagte. Natürlich hat er sie geküsst! Die beiden hatten beinahe jeden Abend das Gartenhäuschen für sich. Andere Leute, wie zum Beispiel ihre leider um so viel jüngere Schwester und ein gewisser General, mussten sich in der Zwischenzeit obdachlos an der Gartenheckeherumtreiben. Aber wir hatten dies gern auf uns genommen, weil wir dachten, dass unterdessen Julie und Joseph – »Natürlich habt ihr euch geküsst!«, erklärte ich am Ende meiner Überlegungen. Julie war bereits im Einschlafen. »Vielleicht …«, murmelte sie noch. Es ist nur so schwer, die Lippen dabei fest geschlossen zu halten, ging es mir durch den Kopf. Und dann legte ich mein Gesicht an Julies Schulter zurecht und schlief ein.
Ich glaube, ich habe einen Schwips.
Einen kleinen Schwips, einen lieben Schwips, einen angenehmen, angenehmen, angenehmen Schwips. Julie hat sich mit Joseph verlobt, und Mama hat Etienne in den Keller geschickt, um Champagner zu holen. Champagner, den Papa vor vielen Jahren gekauft und für Julies Verlobung aufbewahrt hat. Sie sitzen noch alle unten auf der Terrasse und besprechen, wo Julie und Joseph wohnen werden. Napoleone ist soeben fortgegangen, um seiner Mutter alles zu erzählen. Mama hat Madame Letitia Buonaparte und alle Kinder für morgen Abend eingeladen. Dann werden wir also Julies neue Familie kennen lernen. Ich hoffe sehr, dass ich Madame Letitia Buonaparte gefalle, ich hoffe nämlich, dass – nein! Nicht aufschreiben, sonst geht es nicht in Erfüllung! Nur beten und ganz fest im Geheimen daran
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