Désirée
und ist an den Rhein marschiert. Aber nicht über den Rhein, nicht über den Rhein … Die letzte Spur führt über Liège nach Belgien. Dort setzte er sich in einen Reisewagen, Graf Brahe war angeblich mit ihm, und – seitdem ist er verschwunden. Kein Mensch weiß, wo er herumfährt. Viele behaupten, dass ihn Napoleon heimlich und verzweifelt um Hilfe gebeten hat. Und dass er sich mit dem Zaren gestritten hat, weil der die Grenzen von 1794 nicht anerkennen will. Inzwischen schreiben die Pariser Zeitungen, dass Jean-Baptiste geisteskrank ist, Marie und Yvette verstecken zwar die Artikel vor mir, aber die La Flotte lässt die Zeitungen, die sie veröffentlichen, immer ganz zufällig im Salon liegen. Die Skribenten behaupten, dass Jean-Baptistes Vater am Wahnsinn gestorben ist und dass auch sein Bruder verrückt sei und – nein, ich will das nicht wiederholen. Nicht jetzt, während niemand weiß, wo Jean-Baptiste herumirrt. Und wozu … Wahrscheinlich ist er längst in Frankreich. Wahrscheinlich fährt er die Landstraßen entlang, die von den Russen und Preußen Meile für Meile erobert werden mussten. Wahrscheinlich sieht er die aufgerissene Erde und die zerstörten Häuser … Zwei Zettel aus Liège haben mich erreicht. Kammerherr Graf Löwenstein fragt an, ob ich weiß, wo Seine Hoheit eigentlich sei. Ich weiß es nicht, Herr Kammerherr, aber ich kann es mir denken. Heimgekehrt ist er, heimgekehrt und findet einen Trümmerhaufen vor. Und soll die Paradeuniform anziehen und als Sieger einmarschieren. Ich kann Ihre Anfrage nicht beantworten, Herr Kammerherr – ich bitte Sie um Geduld, Seine Hoheit ist auch nur ein Mensch, lassen Sie ihn allein in diesen dunklen Tagen und Nächten – Gestern, am 29. März um halb sieben Uhr früh, trat Marie in mein Zimmer. »Du sollst sofort in die Tuilerien kommen.« Ich sah sie ungläubig an. »In die Tuilerien?« »König Joseph hat einenWagen geschickt, du musst sofort zu Julie fahren.« Ich stand auf und zog mich schnell an. Joseph führt den Oberbefehl über Paris und versucht, die Stadt zu halten. Julie hält sich an sein Verbot, wir haben einander seit Monaten nicht gesehen. Und jetzt plötzlich diese Aufforderung … »Soll ich einen deiner Adjutanten aufwecken? Welchen – den Kriegsgefangenen oder den Alliierten?« Villatte ist mein »kriegsgefangener« und Graf Rosen mein »alliierter« Adjutant. »Ich brauche überhaupt keinen Adjutanten, wenn ich zu Julie soll«, meinte ich. »Ich habe überhaupt nie verstanden, wozu du immer einen Offizier mit dir herumschleppst«, brummte Marie. Fröstelnd fuhr ich durch die menschenleeren Straßen. Straßenkehrer fegten groß gedruckte Aufrufe zusammen. Ich ließ halten, um einen dieser Aufrufe zu lesen. Der Lakai sprang vom Bock und fischte einen aus der Gosse. »Pariser, ergebt euch! Macht es euren Brüdern in Bordeaux nach! Beruft Ludwig XVIII. auf den Thron! Sichert euch den Frieden!«
Unterzeichnet vom Fürsten Schwarzenberg, dem österreichischen Oberbefehlshaber. Die Straßenkehrer von Paris schienen nicht viel von Ludwig XVIII. zu halten. Sie fegten die Aufrufe, die während der Nacht heimlich verstreut worden waren, eifrig zusammen. Vor dem Eingang zu den Tuilerien hielt ein Kürassier-Regiment hoch zu Ross. Unbeweglich warteten die Reiter im fahlen Morgenlicht. Als wir in den Hof der Tuilerien einfuhren, sah ich eine Wagenauffahrt wie zu einem Fest. Dicht vor dem Portal hielten zehn grüne Staatskaleschen mit dem kaiserlichen Wappen. Reisekutschen und Lastwagen jeder Art füllten den Hof. Ununterbrochen schleppten Lakaien schwere eiserne Kassen in die Wagen. Die Kronjuwelen, die Schätze der kaiserlichen Familie, ging es mir durch den Kopf. Und Geldkassetten, sehr viel Geldkassetten … Die Schildwachen beobachteten mit ausdruckslosenGesichtern den Abtransport der Kassetten. Da mein Wagen nicht weiterkommen konnte, stieg ich aus und schlängelte mich zwischen den wartenden Kutschen zum Portal durch. Ich verlangte, sofort bei Joseph gemeldet zu werden. »Sagen Sie nur, seine Schwägerin sei da«, erklärte ich dem Dienst habenden Offizier.
Ein erstaunter Blick traf mich. »Sehr wohl, Königliche Hoheit.« Man hat mich also in den Tuilerien noch nicht vergessen. Zu meiner Überraschung wurde ich in die Privatgemächer der Kaiserin geführt. Als ich in den großen Salon trat, setzte mein Herz einen Schlag lang aus – Napoleon? Nein, nein – nur Joseph, der in diesem Augenblick verzweifelt versuchte, seinem Bruder
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