Désirée
»Die Flucht«, zischte Jérôme. »Die Flucht!«
»Wie du willst – die Flucht der Regentin und des Königs von Rom wird leider die allgemeine Stimmung ungünstig beeinflussen. Ich fürchte, dass dann Paris –« Er sprach nicht weiter. »Nun?«, fragte schließlich die Kaiserin.
»Ich muss die Entscheidung der Regentin überlassen«,sagte Joseph müde und erinnerte überhaupt nicht mehr an Napoleon. Ein dicker älterer Mann strich sich hilflos mit der Hand über das schüttere Haar. »Ich möchte nichts anderes als meine Pflicht tun und nachher keine Vorwürfe hören«, erklärte Marie-Luise gelangweilt. Madame Letitia zuckte wie unter einem Schlag zusammen. Das war also die Frau ihres Napoleon … »Madame, wenn Sie jetzt die Tuilerien verlassen, verlieren Sie vielleicht jeden Anspruch auf die französische Kaiserkrone. Sie und Ihr Sohn, Madame!«, flüsterte Jérôme eindringlich. »Madame, lassen Sie sich von der Garde schützen, vertrauen Sie sich dem Volk von Paris an!«
»Also hier bleiben«, sagte Marie-Luise freundlich und begann die Bänder ihres Hutes aufzuknüpfen. »Madame, der Brief Seiner Majestät!«, stöhnte Joseph. »Napoleon will doch lieber seinen Sohn in der Seine wissen als –« »Wiederholen Sie doch nicht diesen abscheulichen Satz!«, entfuhr es mir. Alle Gesichter wandten sich mir zu. Es war schrecklich peinlich. Ich stand noch immer in der Tür, schnell verneigte ich mich in der Richtung der Kaiserin und murmelte: »Verzeihung, ich will nicht stören.«
»Die Kronprinzessin von Schweden im Salon der Regentin? Madame, das ist eine Herausforderung, die nicht geduldet werden kann!«, brüllte Jérôme und stürzte wie ein Rasender auf mich zu. »Jérôme, ich habe Ihre Königliche Hoheit selbst hierher gebeten, weil – weil Julie –«, stotterte Joseph verlegen und wies auf meine Schwester. Ich folgte seinem Blick. Erst jetzt entdeckte ich Julie, sie saß am äußersten Ende des Salons mit ihren Töchtern auf einem Sofa. Die drei zarten Gestalten verschwammen im Halbdunkel. »Bitte, nehmen Sie doch Platz, Hoheit«, sagte Marie-Luise liebenswürdig. Schnell verzog ich mich in den Hintergrund und setzte mich zu Julie. Sie hielt Zenaïdes Schulter umschlungen und bohrte ihre Finger in denArm des Kindes. »Reg dich doch nicht so auf«, flüsterte ich. Gleichzeitig drangen die ersten Sonnenstrahlen herein. »Jérôme, lösch die Kerzen aus, wir müssen sparen«, sagte Madame Letitia sofort. Jérôme rührte sich nicht. Julies kleine Töchter sprangen auf, erleichtert, sich mit irgendetwas beschäftigen zu können. Ich schob meinen Arm unter Julies. »Du kommst mit den Kindern zu mir«, wisperte ich. Vor dem Kamin wurde weiter beraten. Plötzlich trat Joseph auf uns zu. »Sollte sich die Regentin mit dem Kind nach Rambouillet begeben, so muss ich sie begleiten.«
»Du führst doch den Oberbefehl über Paris«, sagte Julie leise. »Aber der Kaiser hat mir geschrieben, dass ich seinen Sohn nicht verlassen soll«, kam es hastig. »Die ganze Familie wird sich uns anschließen. Julie, ich frage dich zum letzten Mal –« Julie schüttelte den Kopf. Tränen liefen über ihre Wangen. »Nein, nein – ich habe Angst, wir werden von Schloss zu Schloss gejagt werden, zuletzt werden uns die Kosaken einfangen – lass mich bei Désirée, Joseph! Ihr Haus ist sicher. Nicht wahr, dein Haus ist sicher, Désirée?« Joseph und ich sahen einander an. Es war ein langer Blick, in dem wir einander alles sagten, was wir uns seit jenem Abend, an dem ich ihn im Maison Commune kennen lernte, nicht gesagt haben. »Auch Sie können bei mir wohnen, Schwager Joseph«, murmelte ich zuletzt. Er schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. »Vielleicht kommt Napoleon noch zurecht, um Paris zu halten, dann bin ich in wenigen Tagen wieder bei Julie. Wenn nicht –« Er küsste mir die Hand – »danke ich Ihnen für alles, was Sie für Julie und meine Kinder tun. Ihnen und Ihrem Gatten.« In diesem Augenblick meldete der Kammerherr: »Der Fürst von Benevent bittet um Audienz.« Wir sahen Marie-Luise an. Lächelnd wandte sich die Regentin zur Tür. »Ich lasse bitten!« Talleyrand hinktesehr schnell auf die Kaiserin zu. Sein Gesicht sah müde und zerknittert aus, aber sein Haar war sorgfältig gepudert. Er trug die Uniform eines Großwürdenträgers des Kaiserreiches. »Majestät, ich habe mit dem Kriegsminister gesprochen. Wir haben Nachricht von Marschall Marmont. Der Marschall lässt Majestät bitten, Paris
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