Désirée
ähnlich zu sehen. Joseph stand vor einem Kamin, hielt die Hände auf dem Rücken verschränkt und sprach hastig, den Kopf in den Nacken geworfen. Die Kaiserin, die man jetzt Regentin nennt, weil ihr Napoleon für die Dauer seiner Abwesenheit von Paris die unumschränkte Regierungsvollmacht übertragen hat, saß neben Madame Letitia auf einem Sofa. Madame Letitia hatte wie eine Bäuerin ein Wolltuch um die Schultern geschlagen, während die Kaiserin einen Reisemantel trug und einen Hut aufgesetzt hatte. Marie-Luise wirkte wie ein Gast, der sich kaum Zeit nimmt, sich niederzusetzen. Ich bemerkte Meneval, jetzt Sekretär der Regentin, und einige Herren des Senats. Hinter Madame Letitia, hoch gewachsen, schlank und in tadelloser Uniform, König Jérôme von Westfalen, das gefräßige Kind von einst. Die Alliierten haben ihm längst sein Königreich weggenommen. Der Raum war von vielen Kerzen erleuchtet. Ihr Schimmer vermischte sich mit dem grauen Morgenlicht. Die ganze Szene erschien dadurch seltsam unwirklich. »Hier – bitte, hier steht es ausdrücklich geschrieben«, sagte Joseph gerade und zog einen Brief aus der Brusttasche. »Reims, den 16. März 1814. Meinenmündlichen Instruktionen gemäß – und so weiter und so weiter – hier: Verlass meinen Sohn nicht und bedenke, dass ich ihn lieber in der Seine als in den Händen der Feinde Frankreichs wissen möchte. Das Schicksal des Astyanax, des Gefangenen der Griechen, ist mir immer als das unglücklichste der Geschichte erschienen. Dein wohlgeneigter Bruder. Gezeichnet: Napoleon.« »Den Brief hast du doch schon gestern Abend im Staatsrat vorgelesen. Wir wissen bereits, was Napoleon über das Schicksal des Astyanax denkt. Welche Möglichkeiten hast du, um das Kind weder in die Seine noch in die Hände der Feinde fallen zu lassen?«, erkundigte sich Jérôme. Seit seinem Aufenthalt in Amerika spricht er absichtlich langsam und etwas nasal. »Napoleon schreibt –« Joseph zog ein anderes Schreiben aus der Brusttasche. »Seid standhaft vor den Toren von Paris, lasst zwei Kanonen an den verschiedenen Toren aufstellen und die Nationalgarde dort Wache halten. An jedem Tor müssen sich 50 Mann mit Gewehren und Jagdflinten und 100 Mann mit Lanzen befinden, also 250 Mann an jedem Haupttor … Als ob ich nicht zählen könnte, er schreibt an mich wie an einen Idioten! Und weiter: Täglich ist eine Reserve von 3000 Mann zu bilden, die mit Gewehren, Jagdflinten und Lanzen bewaffnet wird und die sich überall, wo sie benötigt wird, mit den Batterien der Garde oder der Kriegsschule hinbegeben kann. Dein wohlgeneigter Bruder. Gezeichnet: Napoleon.«
»Das ist doch sehr klar, hast du die Befehle ausgeführt, Joseph?«, fragte Madame Letitia ruhig. »Aber das ist es ja – ich kann sie nicht ausführen! Wir haben weder Gewehre noch Flinten, der alte Unterhosenoberst vom Depot kann keine mehr auftreiben. Und die Garde weigert sich, mit den alten Lanzen aus dem Museum gegen eine moderne Armee zu marschieren.«
»Weigert sich?«, schrie Jérôme empört. »Kannst duvielleicht eine Stadt mit Lanzen gegen Kanonen verteidigen?«
»Ich weiß überhaupt nichts mit Lanzen anzufangen. Und Napoleon wahrscheinlich auch nicht!«
»Seine Majestät kann alles, wenn es gilt, Frankreich zu verteidigen«, erklärte Meneval leidenschaftlich. Eine Pause entstand. »Nun?« Das war Marie-Luise, ruhig und sehr gleichgültig. »Was wird beschlossen? Soll ich mit dem König von Rom abreisen oder hier bleiben?«
»Madame –« Jérôme sprang hinter dem Sofa hervor und pflanzte sich vor ihr auf. »Madame, Sie haben gehört, was die Offiziere der Garde geschworen haben. Solange die Regentin mit dem König von Rom in Paris weilt, wird Paris nicht fallen! Die Garde wird Übermenschliches leisten, um die Regentin und den Sohn des Kaisers in den Tuilerien zu schützen. Stellen Sie sich doch die Situation vor – eine Frau, eine junge schöne Frau und ein hilfloses Kind auf den Stufen des französischen Kaiserthrones. Jeder waffenfähige Mann wird bis zu seinem letzten Blutstropfen –«
»Jérôme –«, unterbrach ihn Joseph. »Wir haben nur Lanzen für die waffenfähigen Männer. Nur Lanzen!«
»Aber die Garde ist noch voll bewaffnet, Joseph!«
»Ein paar hundert Mann … Aber bitte, ich will die Verantwortung nicht allein tragen, ich sehe ein, dass die Anwesenheit der Regentin nicht nur die Garde, sondern auch das Volk von Paris zu äußerstem Widerstand antreiben wird. Die Abreise dagegen –«
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