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Désirée

Désirée

Titel: Désirée Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annemaire Selinko
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mit dem König von Rom unverzüglich zu verlassen. Der Marschall weiß nicht, wie lange er noch die Straße nach Rambouillet halten kann. Ich bin untröstlich, der Überbringer dieser furchtbaren Nachricht zu sein.« Es war sehr still geworden. Nur die Seidenschleifen des Hutes, die Marie-Luise wieder unter ihrem Kinn festband, raschelten. »Werde ich Seine Majestät in Rambouillet treffen können?«, erkundigte sie sich. »Seine Majestät ist doch auf dem Weg nach Fontainebleau und wird von dort unverzüglich hierher eilen, um Paris zu halten«, sagte Joseph. »Aber ich meine doch Seine Majestät den Kaiser von Österreich – meinen Papa!« Joseph wurde weiß bis in die Lippen. Jérôme presste die Zähne zusammen, seine Stirnader schwoll. Nur Talleyrand lächelte mitleidig und gar nicht überrascht. Da packte Madame Letitia mit hartem Griff den Arm ihrer Schwiegertochter: »Kommen Sie, Madame, kommen Sie!« An der Tür wandte sich Marie-Luise noch einmal um. Ihr blauer Blick glitt über den Salon, blieb an den weißen Vorhängen mit den eingestickten Bienen hängen, begegnete dem Lächeln Talleyrands und verwirrte sich. »Wenn ich nur nachher keine Vorwürfe bekomme«, seufzte sie im Hinausgehen. Wie das Kind weinte und schrie … Unwillkürlich trat ich zur Tür. Die beiden Gouvernanten – Mesdames de Montesquieu und Bouber – versuchten, den kleinen Napoleon hinunterzuführen. Sie hatten ihm eine kleine Chasseur-Uniform angezogen. Das Kind mit den blonden Locken Marie-Luises und dem eigensinnigen Kinn seines Vaters klammerte sichverzweifelt an das Stiegengeländer. »Will nicht, will nicht reisen!«, schrie es und stieß die hilflosen Gouvernanten ans Schienbein. »Komm, Liebchen, komm doch!«, redete ihm die Montesquieu verzweifelt zu. »Mama wartet unten in einem großen schönen Wagen.« Aber das Kind gab nicht nach. Plötzlich tauchte Hortense auf. »Ich weiß, wie man mit kleinen Buben umgeht«, lächelte sie und beugte sich über den Kleinen. Dann löste sie mit jähem Griff die Bubenfinger vom Geländer. »So – und jetzt gehst du brav hinunter!« Das Kind war verstummt. Zum ersten Mal hatte man es hart angepackt. »Fahren wir zu Papa, Tante Hortense?« Stoß sie ans Schienbein, dachte ich, stoß sie doch … »Natürlich, Liebling«, nickte Hortense. Da ging der kleine Napoleon mit seinen Gouvernanten folgsam die Stiegen hinunter. Ich sah Hortense an. Sie atmete keuchend. Hat nicht Napoleon einst ihren Ältesten zum Nachfolger bestimmt? Vor der Geburt des Königs von Rom. Vorher … »Exit Napoleon II.«, murmelte Talleyrand neben mir. »Ich bin leider sehr ungebildet. Ich weiß nicht, wer dieser Astyanax in der Seine sein soll, und das Wort ›Exit‹ kenne ich auch nicht.«
    »Astyanax ist eine Figur aus dem klassischen Altertum. Ein unglücklicher junger Mann, der von den Griechen gefangen und von einer Mauer gestürzt wurde. Man fürchtete, er könnte die Vernichtung Trojas und den Tod seines Vaters rächen. Aber ich kann Ihnen in diesem Augenblick unmöglich die Geschichte vom Trojanischen Krieg erzählen, Hoheit. ›Exit‹ dagegen ist ein lateinisches Wort und bedeutet: Er geht hinaus. Exit Napoleon II.: Napoleon II. verlässt – die Tuilerien? Die Weltgeschichte?« Er zog eine Uhr. »Ich fürchte, ich muss mich verabschieden, mein Wagen wartet –« Auch seine Blicke schweiften nachdenklich über den Salon. Auch seine Augen hingen an den weißen Vorhängen mit den eingewebten Bienen. »Ein hübschesMuster … Schade, dass man die Portieren bald herunternehmen wird!«
    »Wenn man sie umgekehrt aufhängt, stehen die Bienen auf dem Kopf. Dann sehen sie wie Lilien aus. Wie bourbonische Lilien sogar.« Er hob sein Lorgnon vor die Augen. »Wie sonderbar … Aber ich muss mich wirklich verabschieden, Hoheit!«
    »Niemand hält Sie zurück. Werden Sie wirklich der Kaiserin folgen?«
    »Natürlich. Aber ich werde leider vor dem Stadttor in russische Gefangenschaft geraten. Deshalb muss ich pünktlich sein, die russische Patrouille erwartet mich bereits. Auf Wiedersehen, liebe Hoheit!«
    »Vielleicht wird Marschall Marmont Sie befreien, ich würde es Ihnen gönnen«, zischte ich. »So? Dann muss ich Sie enttäuschen. Marschall Marmont ist augenblicklich zu beschäftigt dazu, er führt bereits die Verhandlungen über die Übergabe von Paris. Aber behalten Sie die Nachricht für sich, liebe Hoheit. Wir wollen überflüssige Verwirrung und Blutvergießen vermeiden.« Wie artig er sich verbeugte, wie

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