Désirée
trägt es selten. Die Wunde am rechten Kniestumpf ist noch immer entzündet. Auf dem Schreibtisch stand unsere Geldkassette – offen und leer. Ganz leer. Ich setzte mich auf den Sessel neben dem Schreibtisch. Pierre reichte mir einen Bogen, auf demlange Reihen von Zahlen standen. »Die Aufstellung aller Zahlungen, die ich seit dem ersten April geleistet habe. Alle Gehälter. Einkäufe für den Haushalt. Die Summen sind hoch. Lebensmittel nur noch auf dem schwarzen Markt erhältlich. Vorigen Monat habe ich noch im letzten Augenblick die französischen Staatspapiere Eurer Hoheit verkauft. Von ihrem Erlös haben wir bis jetzt gelebt. Der Koch könnte heute einen Kalbsbraten bekommen, der für alle Gäste ausreichen würde, wenn ich hundert Francs hätte. Oder Schweizer Währung. Hoheit, wir haben nicht einen Sou.« Er schob mir die Kasse zu. Ja, ja – ich habe gesehen, sie ist leer. »Können Hoheit in absehbarer Zeit mit einer Summe aus Schweden rechnen?« Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht könnte Seine Hoheit, der Kronprinz –«
»Ich weiß doch nicht, wo sich Seine Hoheit aufhält.«
»Ich kann selbstverständlich jede Summe geliehen bekommen, wenn Hoheit den Wechsel unterzeichnen. Der Kronprinzessin von Schweden steht heute jeder Betrag zur Verfügung. Wollen Hoheit unterschreiben?« Ich presste die Hände an die Schläfen. Schüttelte dann den Kopf. »Ich kann mir doch nicht Geld ausborgen. Zumindest nicht als Kronprinzessin von Schweden, es würde einen schrecklich schlechten Eindruck machen und meinem Mann nicht recht sein. Nein, es geht wirklich nicht!« Marie war eingetreten. »Du kannst ein paar Silberschüsseln verkaufen oder versetzen.« Und zu Pierre: »Du musst dir das Holzbein anschnallen, sonst wirst du dich nie daran gewöhnen. Nun, Eugénie?«
»Ja, das wäre ein Ausweg. Aber – nein, Marie, das geht auch nicht! Überall ist etwas eingraviert. Entweder J. B. oder das Wappen von Ponte Corvo. Auf der großen Fleischschüssel, für die wir wirklich etwas im Leihhaus bekämen, sogar die Kronprinzenkrone. Ganz Paris würde sofort erfahren, dass wir kein Geld haben. Das würde demAnsehen Schwedens furchtbar schaden.« »Ich könnte ein Schmuckstück Eurer Hoheit versetzen, und niemand würde erfahren, wem es gehört«, schlug Pierre vor. »Und wenn ich plötzlich als Kronprinzessin von Schweden einen meiner hohen Cousins – den russischen Zaren oder den österreichischen Kaiser empfangen soll? Dann stehe ich mit nacktem Hals da! Ich habe doch so wenig wertvollen Schmuck …«
»Julie hat sich immer mit Brillanten behängt, sie kann jetzt ruhig –« »Marie, Joseph hat doch Julies Schmuck mitgenommen«, seufzte ich. »Wie willst du eigentlich die vielen Menschen, die du unterm Dach hast, durchfüttern?«, erkundigte sich Marie. Ich starrte die leere Kasse an. »Lasst mich nachdenken, lasst mich doch nachdenken!« Sie ließen mich nachdenken. Ganz still war es in der Pförtnerwohnung. »Marie, die Firma Clary hat doch zu Papas Zeiten ein Warenlager in Paris gehabt, nicht wahr?« »Natürlich. Das Lager gibt es noch. Jedes Mal, wenn Herr Etienne aus Genua nach Paris kommt, besucht er es. Hat er nie darüber mit dir gesprochen?« »Nein. Dazu war auch kein Anlass.«
Marie zog die Augenbrauen in die Höhe. »Nicht? Wer hat eigentlich die Hälfte der Firma, die deiner seligen Mama gehört hat, geerbt?«
»Das weiß ich doch nicht. Etienne hat nie –«
»Nach dem Gesetz gehören Ihnen, der Königin Julie und Ihrem Bruder Etienne je ein Drittel dieser Hälfte«, erklärte Pierre. »Wir haben doch seinerzeit die Mitgift bekommen, Julie und ich«, warf ich ein. »Ja, das war das Erbteil nach dem seligen Herrn Papa. Etienne hat damals die eine Hälfte der Firma geerbt und die Frau Mama die andere.« Marie schien zu rechnen. »Aber seit dem Tod der Frau Mama –« »Gehört ein Sechstel der Firma Clary Ihnen, Hoheit!«, sagte Pierre. Darüber müsste ich mit Juliesprechen, dachte ich. Aber Julie lag den ganzen Tag im Bett und ließ sich von Yvette Essigkompressen auf die schmerzende Stirn legen. Da konnte ich nicht plötzlich kommen und sagen, dass ich kein Geld fürs Mittagessen habe. »Marie, der Koch soll den Kalbsbraten holen. Der Fleischer wird heute Abend das Geld dafür bekommen. Bitte beschaffe mir sofort einen Mietwagen!« Im großen Salon ging es wie in einem Narrenhaus zu. Marius und Villatte beugten sich über eine Landkarte und gewannen im Gespräch sämtliche Schlachten, die Napoleon in
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