Désirée
den letzten Monaten verloren hat. Julies Töchter rauften sich mit den Söhnen Hortenses um den Inhalt einer Bonbonniere aus hauchdünnem Sèvres-Porzellan. Die La Flotte dagegen übersetzte dem Grafen von Rosen weinend einen Zeitungsartikel, in dem Napoleon Bluthund genannt wurde. Ich wandte mich an Marius. »Wo liegt eigentlich das Warenlager der Firma Clary?« Sonderbarerweise errötete er. »Du weißt doch, dass ich mit dem Seidenhandel nichts zu schaffen habe, Tante. Ich bin zeit meines Lebens Offizier gewesen.« Das Gespräch war ihm in Gegenwart Villattes überaus peinlich. Ich gab nicht nach. »Aber dein Vater ist Seidenhändler, und du solltest dich erinnern, wo sein Warenlager liegt. Er hat es jedes Mal, wenn er in Paris war, aufgesucht.« – »Ich habe ihn aber nie begleitet, ich –« Ich sah ihn an. Da stockte er. »Es liegt in einem Keller im Palais Royal, wenn ich mich richtig erinnere–«, kam es schnell. Dann nannte er mir die Adresse. »Glaubst du, dass mich deine Yvette frisieren kann?«, fragte im gleichen Augenblick Marceline, die in einem kostbaren Morgenrock hereingerauscht kam. »Ich möchte ausfahren. Natürlich nur, wenn du deinen Wagen nicht brauchst, Tante.« – »Ich brauche ihn im Augenblick nicht. Aber ich würde dir abraten, den Wagen mit dem Wappen des schwedischen Kronprinzen zu benutzen.«
»Oh, es ist ganz ruhig in den Straßen, man hat sich an den Umschwung schnell gewöhnt«, lächelte Marceline. »Darf ich?« Ich nickte. »Der Mietwagen ist vorgefahren«, wisperte mir Marie ins Ohr. – Der Mietwagen hielt vor einem geräumigen, sehr eleganten Kellergeschäft im Palais Royal. Ein schmales Schild mit vornehmen Goldlettern: François Clary. Seidenwaren – en gros, en detail. Ich ließ den Wagen warten, stieg drei Treppen hinab, öffnete eine Tür, hörte eine helle Geschäftsglocke bimmeln und stand in einem sehr hübsch eingerichteten Büro. Nur die halb leeren Regale an den Wänden mit den großen Seidenrollen verrieten den Zweck des vornehmen Mahagonischreibtisches und der zierlichen Stühle und Tischchen. Hinter dem Schreibtisch saß ein älterer Mann in vornehm dunklem Zivil, die weiße Kokarde der Bourbonen im Knopfloch. »Womit kann ich dienen, Madame?« »Führen Sie die Geschäfte der Firma Clary in Paris?«
Der Mann verbeugte sich. »Zu Diensten, Madame. Weißer Satin ist leider ausverkauft, aber wir haben noch eine Restpartie Vorhangmusselin, den Madame über Ihre Gardinen hängen können. Sehr gefragt im Faubourg St. Germain –« »Darum handelt es sich nicht«, sagte ich scharf.
»Oh, ich verstehe – Madame denken an eine Toilette!« Er sah die Regale an. »Bis gestern hatte ich noch eine Partie Brokatstoff mit eingewebter Lilie, Madame, aber leider ausverkauft, alles ausverkauft. Vielleicht Velour oder weißer –« »Sie machen gute Geschäfte, Monsieur –«
»Legrand, Madame, Legrand«, stellte er sich vor. »Diese weißen Stoffe – Brokat mit eingewebter bourbonischer Lilie, Vorhangmusselin für die Restauration und die anderen weißen Fetzen – wann sind die eigentlich angekommen? Die Zufahrtsstraßen nach Paris sind doch gesperrt.« Er musste so lachen, dass die beiden Doppelkinne im hohen Kragen auf und ab wippten. »Monsieur Clary hat dieStoffe schon vor Monaten aus Genua geschickt. Kurz nach der Schlacht bei Leipzig kamen die ersten Partien an. Monsieur Clary, der Chef der Firma, ist überaus wohl informiert. Madame werden ja wissen, Monsieur Clary ist –« Er räusperte sich. »Monsieur Clary ist der Schwager des Siegers von Leipzig! Der Schwager des schwedischen Kronprinzen. Madame werden verstehen, dass –« »Und Sie haben schon vor Wochen weiße Seide an die Damen des alten Adels verkauft?«, unterbrach ich ihn. Er nickte stolz. Ich starrte die Kokarde auf seinem Rockaufschlag an. »Ich konnte bisher nicht verstehen, woher über Nacht die weißen Kokarden kamen«, murmelte ich. »Die Damen der alten Familien, die der Kaiser an seinem Hofe empfing, haben also heimlich weiße Kokarden genäht?« »Madame – ich bitte!«, wehrte er ab. Aber ich war plötzlich wütend, schrecklich wütend. Die Regale waren beinahe leer. »Und Sie haben weiße Seide verkauft, eine Rolle nach der anderen! Während sich die französischen Truppen noch geschlagen haben, um die Verbündeten zurückzuwerfen, sind Sie hier gesessen und haben Geld eingescheffelt – nicht wahr, Monsieur?« »Madame, ich bin nur Angestellter der Firma François Clary«, verteidigte er
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