Désirée
Fassungslos stolperte Legrand auf die Tür zu. »Monsieur, einen Augenblick!« Er wandte sich um. »Bitte nehmen Sie die weiße Kokarde ab, wenn Sie im Auftrag der Firma Clary Besuche abstatten!«
»Hoheit, die meisten Leute tragen doch –«
»Ja, aber nicht ehemalige Lehrlinge meines Papas. Auf Wiedersehen, Monsieur!« Als ich allein war, setzte ich mich hinter den Schreibtisch und ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. Ich war sehr müde. So viele Nächte, in denen ich nicht mehr richtig schlafen kann. Meine Augen brannten von den dummen Tränen, die ich plötzlich geweint hatte. Die Erinnerung an Marseille ist schuld daran gewesen. Ein schlimmes Kind … Ich war ein schlimmes und völlig sorgloses Kind, das Papa an der Hand genommen hat, um ihm die Menschenrechte zu erklären. Das ist lange her. Und kommt nie wieder. Die Glocke über der Eingangstür bimmelte. Ich sprang diensteifrig auf. Ein hellblauer Frack mit kunstvollen Stickereien, eine weiße Kokarde: Der Einkäufer des Salons Le Roy. Ich habe dort immer nur mit der Direktrice zu tun gehabt, der Einkäufer kennt mich nicht. »Sie sind der Einkäufer von Le Roy, nicht wahr? Ich vertrete Monsieur Legrand. Womit können wir Ihnen dienen?«
»Ich hätte gern mit Monsieur Legrand persönlich –«
Ich bedauerte. Zog dann eine schwere Rolle Samt von den Regalen. Ein Zettel lag darauf: Ausstellung von Madame Mère. Zurückgeschickt.« Ich rollte ein Stück auf, um die richtige Seite des Stoffes zu sehen. Dunkelgrün, die Farbe Korsikas. Mit eingewebten Goldbienen. »Hier –«, sagte ich. »Dunkelgrüner Samt mit der Lilie der Bourbonen!« Dabei strengte ich mich an, um die Rolle möglichst schnellumzudrehen. Die Bienen kamen dadurch verkehrt zu liegen. Der Einkäufer half mir nicht. Hielt nur ein Lorgnon vor die Nase und betrachtete den Samt. »Die Lilien erinnern an die Biene«, kritisierte er. »Dafür kann ich nichts«, bemerkte ich schnippisch. »Sie erinnern an die Napoleonische Biene«, beharrte er. Und kritisierte: »Außerdem ist Dunkelgrün ganz unmodern geworden, man hat die Farbe während des Kaiserreiches zu viel gesehen. Noch dazu Samt! Samt im Frühling … ! Haben Sie blasslila Musselin?« Ich sah die Regale entlang. Musselin … Rosa Musselin, gelber Musselin, violetter Musselin … Ausgerechnet auf dem obersten Fach. Irgendwo muss doch eine Leiter stehen, vielleicht – ja, dort drüben steht die Leiter, ich legte sie an. Kroch hinauf, fischte nach dem violetten Musselin … »Kaiserin Josephine wünscht nämlich eine blasslila Toilette. Blasslila ist eine Andeutung von Trauer. Die Kaiserin braucht die Toilette, um den Zaren zu empfangen.«
Da fiel ich beinahe von der Leiter. »Sie will – den Zaren – empfangen?«
»Natürlich. Sie hofft sehr auf seinen Besuch, um mit ihm über ihre Einkünfte zu sprechen. Über die Einkünfte der Bonapartes wird ja noch verhandelt. Es sieht so aus, als ob man großzügig sein und diesen Parvenus eine Rente lassen wird. Haben Sie blasslila Musselin oder nicht?« Ich kletterte mit der Rolle die Leiter hinunter. Blätterte dann das hauchdünne Gewebe vor ihm auf. »Zu dunkel erklärte er. »Fliederfarbe – die große Mode«, widersprach ich. Er betrachtete mich verächtlich. »Wie kommen Sie darauf?« – »Kleidsam und ein wenig melancholisch. Gerade das Richtige für Josephine. Übrigens – wir verkaufen jetzt nur gegen sofortige Bezahlung!« »Kommt gegenwärtig nicht in Frage. Unsere Kunden bezahlen auch nicht sofort. Natürlich, sowie sich die Lage geklärt haben wird, Mademoiselle –«
»Die Lage hat sich geklärt. Der Franc fällt. Wir verkaufen nur kontant.« Ich nahm die Rolle vom Schreibtisch und trug sie zu den Regalen zurück. »Wo ist denn Monsieur Legrand?«, klagte er. »Nicht hier, das habe ich Ihnen schon gesagt.« Hungrig schweiften seine Blicke über die halb leeren Regale. »Sie haben beinahe keine Waren mehr«, bemerkte er. Ich nickte. »Ja, so gut wie ausverkauft. Und zwar gegen sofortige Bezahlung.« Er starrte wie gebannt auf ein paar Rollen Satin. »Die Marschallin Ney«, murmelte er. »Hellblauer Satin? Madame Ney hat einen Rubinschmuck und trägt gern Hellblau«, schlug ich vor. Er sah mich neugierig an. »Sie sind gut informiert, meine Kleine, gut eingearbeitet in der Branche, Mademoiselle –?«
»Désirée«, sagte ich freundlich. »Nun? Was wollen wir der Marschallin Ney anziehen, wenn sie den Bourbonen in den Tuilerien vorgestellt wird?«
»Sie sagen das so
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