Désirée
meinen Arm und führte mich die Stiegen hinauf. In meinem Boudoir stolperte ich über irgendetwas Glitzerndes und wollte mich bücken, um es aufzuheben. Aber Marie sagte: »Lass das, es ist nur eine von Julies Kronen.« Sie zog mir das Kleid aus, als ob ich ein Kind wäre. Dann brachte sie mich zu Bett und stopfte die Decke rund um mich fest, wie ich es gern habe. »Denk dir, der Kalbsbraten ist angebrannt«, sagte sie düster. Mir fielen die Augen zu. »Der Koch hat sich in der Einfahrt herumgetrieben, er wollte den Zaren sehen.« Mitten in der Nacht erwachte ich. Mit einem Ruck setzte ich mich auf. Es war stockfinster und ganz still. Mein Herz hämmerte. Ich presste die Hände an die Schläfen, um mich zu erinnern. Irgendetwas hatte mich aufgeweckt – ein Gedanke, ein Traum? Nein. Ich wusste plötzlich, dass etwas geschehen würde. In dieser Nacht, vielleicht in dieser Stunde. Etwas, das ich den ganzen Abend vorausgefühlt hatte, aber nicht durchdenken konnte. Zuerst war ich so müde, dann ist auch noch der Zar gekommen … Plötzlich wusste ich es. Es hing mit der Abdankungsurkunde und den Veilchen zusammen. DieVeilchen, um Gottes willen – die Veilchen. Ich zündete die Kerze an und ging in mein Boudoir. Auf dem Toilettentisch lag noch die Extra-Ausgabe. Langsam – Wort für Wort las ich sie durch. »… so erklärt der Kaiser, seinem Eide getreu … auf die Throne von Frankreich und Italien verzichtet und dass es kein Opfer gibt, das des Lebens nicht ausgenommen, das er nicht bereit wäre…«
Kein Opfer, das des Lebens nicht ausgenommen … Diese Worte haben mich aufgeweckt. Wenn man weiß, dass man am Ende seines Lebens angelangt ist, denkt man wahrscheinlich zurück. An seine Jugend, an die Jahre des Hoffens und Wartens. Eine Hecke fällt einem ein, ein zufälliges junges Mädchen, das mit einem an dieser blühenden Hecke lehnte, es ist übrigens noch gar nicht so lange her, dass man dieses Mädchen wieder gesehen hat, Veilchen am Ausschnitt, im Park von Fontainebleau blühen jetzt Veilchen, die Gardisten stehen müßig im Hof herum und haben nichts mehr zu tun, man lässt einen von ihnen Veilchen pflücken, während man die Urkunde unterschreibt, Caulaincourt kann sie mitnehmen, wenn er das Dokument nach Paris bringt, ein letzter Gruß, man ist allein mit seiner Jugend … Er wird sich das Leben nehmen, die Veilchen sind der Beweis. Ich werde Villatte befehlen, sofort nach Fontainebleau zu reiten und in Napoleons Schlafzimmer einzudringen. Villatte wird vielleicht zu spät kommen. Aber ich muss ihn trotzdem aufwecken und alles versuchen, ich muss. – Muss ich? Warum muss ich es verhindern? Er steht doch schon an der Hecke. Ihn zurückzwingen, weil es sich so gehört? Nur, weil es sich so gehört –? Ich ließ mich vom Stuhl gleiten und krümmte mich auf dem Fußboden zusammen und biss in meine Fäuste, um nicht zu schreien. Ich wollte niemanden aufwecken. Es war eine sehr lange Nacht … Erst als sie zu Ende war, schleppte ich mich in mein Bett zurück. MeineGlieder schmerzten, mir war kalt, schrecklich kalt. Nach dem Frühstück – Schokolade, weißes Gebäck und süße Marmelade aus dem Schleichhandel, wir haben ja wieder Geld – ließ ich Oberst Villatte rufen. »Begeben Sie sich im Laufe des Vormittags in das Büro Talleyrands und erkundigen Sie sich in meinem Auftrag nach dem Befinden des Kaisers.« Dann fuhr ich mit dem Grafen von Rosen in einem Mietwagen zum Warenlager, denn ich hatte gehört, dass die Preußen in ganz Paris »einkaufen«, ohne zu bezahlen. Die Russen waren auf der Jagd nach Parfüms und tranken die Fläschchen gleich aus und behaupteten, es schmecke besser als Branntwein. Als wir in den Keller der Firma Clary kamen, versuchte Monsieur Legrand gerade vergeblich, ein paar preußische Soldaten zurückzuhalten, unsere letzten Seidenrollen davonzuschleppen. Ich schob schnell von Rosen in seiner schwedischen Uniform vor. »Paris hat unter der Bedingung kapituliert, dass nicht geplündert wird«, sagte von Rosen höflich. Ich stieß ihn in den Rücken: »Schreien Sie sie doch an!« Von Rosen schöpfte Atem und schrie: »Das werde ich General Blücher melden!« Die Preußen murrten. Befühlten noch einmal die Stoffe, griffen schließlich in die Brusttasche und bezahlten. Auf unserer Rückfahrt in die Rue d’Anjou mussten uns Gendarmen den Weg bahnen, so groß war die Menschenmenge vor meinem Haus. Vor dem Portal marschierten zwei russische Leibgardisten feierlich auf und ab. Als ich
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