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Désirée

Désirée

Titel: Désirée Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annemaire Selinko
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offenen Hemd fasste mich an der Schulter und lachte grölend, weil ich ihn wegstieß. Immer neue Schatten verstellten mir den Weg, ich verspürte klebrige Finger an meinen Armen und hörte plötzlich eine kichernde Mädchenstimme: »Sieh mal an, das ist doch die kleine Clary!« Es war Elisa Buonaparte, Napoleones älteste Schwester. Elisa ist zwar erst 17 Jahre alt, aber an jenem Abend war sie so stark geschminkt und aufgeputzt und trug dingelnde Ohrgehänge, dass sie viel älter wirkte. Sie drückte sich in den Arm eines jungen Mannes, dessen modisch hoher Kragen sein halbes Gesicht verdeckte. »Eugénie –«, schrie sie mir nach, »Eugénie, darf mein Kavalier Sie nicht auf einGlas Wein einladen?« Aber ich rannte weiter und tauchte in die engen unbeleuchteten Gassen, die zum Fischmarkt führen. Dort schlug kichernde, quietschende, brodelnde Dunkelheit über mir zusammen. Aus allen Haustoren und Fenstern flatterten Kosenamen und Schimpfworte, und in der Gosse wimmerten verliebte Katzen. Auf dem Fischmarkt atmete ich etwas auf, hier waren ein paar Laternen, und ich begann meine Angst hinunterzuwürgen. Ich schämte mich plötzlich dieser Angst und schämte mich auch der schönen weißen Villa mit den Fliederbüschen und Rosenranken, in der ich zu Hause bin. Ich überquerte den Fischmarkt und fragte nach der Adresse der Buonapartes. Man wies in die dunkle Höhle einer Gasse. Das dritte Haus links, Joseph hatte einmal erwähnt, sie hätten eine Wohnung im Erdgeschoss. Ich fand eine schmale Treppe, die zu einer Kellerwohnung führte, stolperte sie hinunter, stieß eine Tür auf und stand in der Küche der Madame Buonaparte. Es war ein großer Raum, den ich nicht richtig übersehen konnte, da er nur von einer einzigen ärmlichen Kerze, die in einer zerborstenen Teeschale stand, erleuchtet wurde. Es roch abscheulich. Joseph saß in seinem zerknitterten Hemd ohne Halstuch am Tisch mit der Kerze und las Zeitungen. Ihm gegenüber beugte sich der neunzehnjährige Lucien über die Tischplatte und schrieb. Zwischen den beiden standen Teller mit Speiseresten. Im dunklen Hintergrund wurde Wäsche gewaschen. Schrum, schrum – machte es, jemand benutzte mit fanatischem Eifer ein Waschbrett, Wasser plätscherte; es war heiß zum Ersticken.
    »Joseph!«, sagte ich, um mich bemerkbar zu machen. Joseph fuhr auf. »Ist jemand gekommen?« Das war Madame Buonapartes gebrochenes Französisch. Das Schrumschrum des Waschbrettes verstummte. Napoleones Mutter trat in den Schimmer der Kerze und trocknetesich die Hände an einer großen Schürze ab. »Ich bin es – Eugénie Clary.«
    Worauf Joseph und Lucien gleichzeitig schrien: »Um Gottes willen – was ist passiert?«
    »Sie haben Napoleone verhaftet.«
    Einen Augenblick war es totenstill. Dann seufzte Madame Buonaparte. »Heilige Maria, Muttergottes«, Josephs Stimme überschlug sich mit einem »Ich habe es kommen gesehen, ich habe es kommen gesehen …!«. Und Lucien brachte »Das ist fürchterlich« hervor. Sie setzten mich auf einen wackligen Stuhl, und ich musste alles genau berichten. Aus einem Nebenraum kam nun Bruder Louis hervor – sechzehn Jahre alt und sehr fett – und hörte zu, ohne die Miene zu verziehen. Dann wurde ich durch ein Riesengeheul unterbrochen. Die Tür flog auf, und der kleine Jérôme, Napoleones zehnjähriger Bruder, stürzte herein, und hinter ihm lief die zwölfjährige Caroline und schrie ihm die saftigsten Schimpfworte des Hafenviertels nach und raufte sich mit ihm um irgendetwas, das er in den Mund zu stopfen versuchte. Madame Buonaparte gab Jérôme eine Ohrfeige und schrie Caroline auf Italienisch an, nahm Jérôme weg, was er in den Mund stecken wollte, und da es sich herausstellte, dass es eine Marzipanstange war, brach sie sie in zwei Teile und gab Caroline ein Stück und Jérôme eines. Dann schrie sie: »Ruhe! Wir haben Besuch!« Wodurch Caroline auf mich aufmerksam wurde und ausrief: »O làlà – eine von den reichen Clarys!« Dann kam sie an den Tisch und setzte sich auf den Schoß von Lucien.
    Eine schreckliche Familie, dachte ich und bereute sofort diesen Gedanken. Sie können ja nichts dafür, dass sie so zahlreich sind. Und so arm. Und kein anderes Wohnzimmer haben als ihre Küche. Unterdessen begann Joseph mich auszufragen. »Wer hat Napoleone verhaftet? Waren es bestimmt Soldaten? Nicht etwa Polizei?«
    »Es waren Soldaten«, antwortete ich.
    »Dann ist er nicht im Gefängnis, sondern in irgendeinem Militärarrest«, folgerte

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