Désirée
Polette? Polette ist genau so alt wie ich … Joseph und ich gingen stumm nebeneinander durch die Stadt. Ich dachte an jenen Abend, an dem er mich zum ersten Mal nach Hause begleitet hat. Ist das wirklich erst etwas über vier Monate her? Damals hat alles begonnen. Bis dahin war ich ein Kind gewesen, obwohl ich dachte, erwachsen zu sein. Heute weiß ich, dass man erst erwachsen ist, wenn man einen Mann schrecklich lieb hat. »Sie können ihn unter keinen Umständen guillotinieren«, sagte Joseph, als wir bei unserer Villa angelangt waren. Es war das Ergebnis der Überlegungen, die er während unseres langen Schweigens angestellt hatte. »Sie werden ihn höchstens – so ist das beim Militär – erschießen.«
»Joseph!«
Die Umrisse seines Gesichts sahen im Mondlicht sehr scharf aus. Er liebt ihn nicht, durchfuhr es mich, nein – erliebt diesen Bruder nicht. Er hasst ihn sogar. Weil Napoleone jünger ist und ihm trotzdem eine Stellung verschaffen konnte, weil Napoleone ihm zugeredet hat, Julie zu heiraten, weil Napoleone – »Aber wir gehören zusammen«, sagte er jetzt, »Napoleone und ich und die anderen Geschwister. Wir halten in guten und bösen Zeiten zusammen.«
»Gute Nacht, Joseph!«
»Gute Nacht, Eugénie!«
Ich gelangte unbemerkt ins Haus. Julie lag bereits im Bett, aber die Kerze auf ihrem Nachttisch brannte. Sie hatte auf mich gewartet. »Du warst bei den Buonapartes, nicht wahr?«, fragte sie.
»Ja«, sagte ich und begann mich schnell auszuziehen. »Sie wohnen in einem Kellerloch, und Madame Letitia wäscht spätabends Hemden, und Jérôme, dieses entsetzliche Kind, ist in den Waschtrog gefallen, und ich glaube, dass sich die beiden Mädchen – die Elisa und die Polette – abends mit Männern herumtreiben. Gute Nacht, Julie – schlaf gut!«
Beim Frühstück sagte Etienne, dass Julie ihre Hochzeit verschieben muss, da er nicht den Bruder eines Mannes, der wegen jakobinischer Gesinnung verhaftet wurde, zum Schwager haben will. Es sei eine Schande für die Familie und sehr schlecht für den Ruf der Firma. Julie begann zu schluchzen und sagte: »Nie und nimmer wird mein Hochzeitstag verschoben!«, und sperrte sich in unser Zimmer ein. Mit mir sprach niemand über die Angelegenheit, weil außer Julie keiner ahnt, dass ich zu Napoleone gehöre. Mit Ausnahme von Marie; ich glaube, Marie weiß alles. Nach dem Frühstück kam Marie ins Esszimmer und machte mir ein Zeichen, und ich ging in die Küche und fand dort Polette mit dem Paket. »Schnell, gehen wir, ehe uns jemand bemerkt«, sagte ich zu ihr. Etienne würde einenTobsuchtsanfall bekommen, wenn er gewusst hätte, dass ich bei den Behörden mit einem Paket Unterhosen für den arretierten Napoleone Buonaparte erscheinen wollte. Ich habe mein ganzes Leben in Marseille verbracht, und Polette ist erst vor einem Jahr hierher gekommen, aber sie kennt sich viel besser aus als ich. Und sie wusste auch ganz genau, wo man den Militärkommandanten findet. Auf dem Wege zu ihm redete sie ununterbrochen. Sie wiegte sich beim Gehen in den Hüften, sodass der fadenscheinige knallblaue Rock hin und her schwenkte, hielt sich sehr aufrecht und streckte den Busen – viel größer als meiner, und dabei sind wir doch gleich alt – heraus und fuhr sich jeden Augenblick mit ihrer spitzen roten Zunge über die Lippen, um ihnen feuchten Glanz zu geben. Polette hat dieselbe schmale Nase wie Napoleone, ihre dunkelblonden Haare sind in tausend Löckchen gedreht und mit einem blauen Band hinaufgebunden, die Augenbrauen hat sie zu einem dünnen Strich gezupft und mit Kohle nachgezogen. Ich finde Polette sehr schön, aber sie sieht so aus, dass es meine Mama nicht gern hat, wenn ich mit ihr gesehen werde. Polettes Gedanken schwirrten aufgeregt um die ehemalige Marquise de Fontenay, die neue Madame Tallien. »Die Pariser sind ganz verrückt mit ihr und nennen sie Notre Dame de Thermidor, man hat sie doch am neunten Thermidor im Triumph aus dem Gefängnis geholt, und der Abgeordnete Tallien hat sie gleich geheiratet, und stell dir vor –«, Polette riss die Augen weit auf und atmete tief vor Erregung – »stell dir vor, sie trägt Kleider ohne Unterrock! Sie zeigt sich in einem ganz durchsichtigen Gewand – und man sieht alles! Ich sage dir – alles!«
»Woher weißt du das?«, fragte ich, aber Polette überhörte meine Frage. »Sie hat kohlrabenschwarze Haare und kohlrabenschwarze Augen und wohnt in einem Haus, das man in Paris die ›Chaumière‹ nennt und das innen
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