Désirée
sich, um seiner Mutter alles zu erzählen. Und ich ging in mein Zimmer, um es aufzuschreiben. Mein angenehmer kleiner Schwips ist jetzt ganz verflogen. Ich bin nur müde. Und ein klein wenig traurig. Denn nunwerde ich bald allein in unserem weißen Zimmer wohnen und nie wieder Julies Rouge benutzen und heimlich ihre Romane lesen. Aber ich will nicht traurig sein, sondern lieber an etwas Lustiges denken. Ich muss herausfinden, wann Napoleone Geburtstag hat. Vielleicht reicht mein aufgespartes Taschengeld für eine Galauniform. Aber – wo bekommt man eigentlich eine Galauniform für einen General zu kaufen?
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Marseille, Mitte Thermidor.
(Anfang August, sagt Mama).
N apoleone ist verhaftet worden.
Seit gestern Abend lebe ich wie in einem bösen Traum. Dabei befindet sich eine ganze Stadt in einem Freudentaumel, vor dem Rathaus wird getanzt, eine Musikkapelle nach der anderen zieht vorüber, und der Bürgermeister arrangiert seit zwei Jahren den ersten Ball. Robespierre und sein Bruder wurden am neunten Thermidor von den anderen Abgeordneten ausgebürgert, verhaftet und am nächsten Morgen auf die Guillotine geschleppt. Alle Leute, die irgendwie mit ihm in Verbindung standen, haben Angst, arretiert zu werden. Joseph hat bereits seine Stellung verloren, die er Napoleones Freundschaft mit Robespierres jüngerem Bruder zu verdanken hatte. Bis jetzt sind über neunzig Jakobiner in Paris hingerichtet worden. Etienne sagt, dass er mir nie verzeihen wird, dass ich die Buonapartes in unser Haus gebracht habe. Mama verlangt, dass Julie und ich den Ball des Bürgermeisters besuchen. Es wäre mein erster Ball, aber ich will nicht hingehen. Ich kann nicht lachen und tanzen, wenn ich nicht einmal weiß, wohin sie Napoleone gebracht haben.
Bis zum neunten Thermidor – nein, eigentlich bis zum zehnten, waren Julie und ich sehr glücklich. Julie arbeitete eifrig an ihrer Ausstattung und stickte hundertmal den Buchstaben B auf Kissenbezüge, Tischdecken, Leintücher und Taschentücher. In ungefähr sechs Wochen soll die Hochzeit sein. Joseph kam jeden Abend zu Besuch und brachte sehr oft seine Mutter und seine Geschwister mit. Wenn Napoleone nicht irgendwelche Festungen inspizierte, tauchte er zu allen Tageszeiten bei uns auf, und manchmal kamen auch seine beiden hübschen AdjutantenLeutnant Junot und Kapitän Marmont. Aber die endlosen Gespräche über die politische Lage interessierten mich gar nicht. Und erst jetzt weiß ich, dass Robespierre vor über zwei Monaten plötzlich ein neues Gesetz zur Abstimmung brachte. Er verlangte, dass von nun an auch Abgeordnete auf Befehl eines Mitgliedes des Komitees für öffentliche Sicherheit verhaftet werden können. Es heißt, dass viele Abgeordnete ein sehr schlechtes Gewissen haben, weil sie an Bestechungsgeldern reich geworden sind. Die Abgeordneten Tallien und Barras sollen Millionäre geworden sein. Plötzlich ließ Robespierre auch die schöne Marquise de Fontenay verhaften, die der Abgeordnete Tallien seinerzeit aus dem Gefängnis befreit hat und die seitdem seine Geliebte war. Warum er sie verhaften ließ, weiß niemand. Vielleicht nur, um den Tallien zu ärgern. Manche sagen, dass es wegen der Fontenay war, und andere wieder, dass Tallien und Barras Angst hatten, wegen ihrer Bestechlichkeit verhaftet zu werden – jedenfalls organisierten sie gemeinsam mit einem gewissen Fouché die große Verschwörung.
Zuerst konnte man bei uns diese Nachrichten gar nicht glauben. Aber als die ersten Zeitungen aus Paris eintrafen, war die ganze Stadt mit einem Schlage wie verwandelt. Fahnen hingen aus allen Fenstern, die Kaufläden wurden geschlossen, und jeder ging zu irgendjemand auf Besuch. Der Bürgermeister wartete gar nicht erst auf einen Bescheid aus Paris, sondern ließ einfach alle politischen Gefangenen auf freien Fuß setzen. Fanatische Mitglieder des Jakobinerklubs dagegen wurden in aller Stille verhaftet. Die Frau Bürgermeisterin schreibt sich die Namen aller bekannten Bürger der Stadt auf, um sie zu einem Ball im Rathaus einzuladen.
Napoleone und Joseph dagegen erschienen völlig verstört bei Etienne und schlossen sich mit ihm imWohnzimmer ein. Etienne war nachher sehr ärgerlich und sagte zu Mama, dass diese »korsischen Abenteurer« uns noch alle ins Gefängnis bringen werden. Napoleone saß stundenlang in unserem Gartenhäuschen und sagte mir, dass er sich nach einem anderen Beruf umsehen müsse. »Du glaubst doch nicht, dass man einen Offizier, für den sich
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