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Désirée

Désirée

Titel: Désirée Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annemaire Selinko
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vor.
    Wir gingen zu Bett, aber weder Julie noch ich konnten einschlafen, und deshalb sprachen wir von Julies neuem Heim. Es liegt außerhalb von Marseille, aber nicht länger als eine halbe Wagenstunde von uns entfernt. Plötzlich stockten wir jedoch und lauschten. »– le jour de gloire est arrivé«, pfiff jemand unter unserem Fenster. Ich fuhr auf. Der zweite Satz unseres Marseiller Liedes. Und gleichzeitig – Napoleons Zeichen. Wenn er uns besuchen kam, kündigte er sich immer bereits von weitem durch diesenPfiff an. Ich sprang aus dem Bett, schlug die Gardinen auseinander, riss das Fenster auf, beugte mich hinaus. Es war eine sehr dunkle und drückend schwüle Nacht. Ein Gewitter hing in der Luft. Ich spitzte die Lippen und pfiff. Es gibt sehr wenige Mädchen, die anständig pfeifen können, ich gehöre zu ihnen, aber leider würdigt man dieses Können nicht, sondern findet es ungezogen. »Le jour de gloire –«, pfiff ich.
    »– est arrivé!«, kam es von unten. Eine Gestalt, die ganz nahe an der Hausmauer gestanden war, löste sich aus dem Dunkel und trat auf den Kiesweg.
    Ich vergaß das Fenster zuzumachen, ich vergaß, in meine Hausschuhe zu schlüpfen, ich vergaß, irgendetwas umzunehmen, ich vergaß, dass ich nur ein Nachthemd trug, ich vergaß, was sich gehört und was sich nicht gehört – ich rannte wie eine Besessene die Stiegen hinunter, öffnete die Haustür, spürte Kieselsteine unter meinen bloßen Füßen, und dann spürte ich seinen Mund auf meiner Nase. Es war ja so dunkel, und im Dunkeln kann man sich nicht aussuchen, wohin man küsst. In der Ferne donnerte es, und er presste mich an sich und flüsterte: »Ist dir nicht kalt, Carissima?« Und ich sagte: »Nur an den Füßen, ich habe nämlich keine Hausschuhe an!« Worauf er mich in die Höhe hob und zu den Treppen vor unserer Haustür trug. Dort setzten wir uns nieder, und er nahm seinen Mantel ab und packte mich ein. »Seit wann bist du zurück?«, wollte ich wissen.
    Und er sagte, dass er noch gar nicht richtig zurück sei, sondern erst auf dem Wege zur Wohnung seiner Mutter. Ich legte meine Wange an seine Schulter und spürte den rauen Uniformstoff und war sehr glücklich. »War es sehr arg?«, fragte ich.
    »Nein, gar nicht. Übrigens vielen Dank für das Paket. Ich bekam es mit einem Begleitschreiben des OberstenLefabre. Er schrieb, dass er es nur dir zuliebe übermittelte.« Dabei streichelte er mit den Lippen über mein Haar. Dann sagte er unvermittelt: »Ich habe verlangt, vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden. Man hat mir nicht einmal diesen Wunsch erfüllt.« Ich hob den Kopf und sah ihn an, aber es war so dunkel, dass ich nur die Umrisse seines Gesichtes sehen konnte. »Kriegsgericht?«, sagte ich. »Das wäre doch schrecklich gewesen …« »Wieso? Ich hätte dann die Möglichkeit gehabt, einigen hohen Offizieren zu erklären, worum es sich eigentlich handelt. Welche Pläne ich durch Robespierre, diesem Idioten von einem Kriegsminister, überreichen ließ. Dann wäre man wenigstens auf mich aufmerksam geworden. Aber so –« Er rückte ein wenig von mir ab und stützte den Kopf in die Hand. »Aber so verstauben meine Pläne in irgendeinem Archiv, und Minister Carnot bildet sich noch etwas darauf ein, wenn es unserer Armee gelingt, mit Mühe und Not die Grenzen zu verteidigen.«
    »Und was willst du jetzt machen?«
    »Man hat mich freigelassen, weil nichts gegen mich vorliegt. Aber unliebsam bin ich den Herren vom Kriegsministerium. Unliebsam, verstehst du? Sie werden mich an den langweiligsten Abschnitt unserer Front kommandieren und –«
    »Es regnet«, unterbrach ich ihn. Die ersten schweren Tropfen fielen auf mein Gesicht. »Das macht doch nichts«, sagte er erstaunt und begann mir zu erklären, was man einem General, den man kaltstellen will, alles antun kann. Ich zog die Beine ein und wickelte den Generalsmantel fester um mich. Es donnerte wieder, und ein Pferd wieherte auf. »Mein Pferd. Ich habe es an euren Gartenzaun gebunden«, bemerkte er. Es begann stärker zu regnen. Ein Blitz zuckte, Donner grollte erschreckend nahe, und das Pferd wieherte verzweifelt. Napoleone schrie dem Pferd etwas zu.
    Über uns klirrte ein Fenster. »Ist jemand hier?«, rief Etienne herunter. »Komm ins Haus, wir werden so nass«, flüsterte ich Napoleone zu. »Wer ist hier?«, schrie Etienne. Gleichzeitig hörten wir Suzannes Stimme: »Mach doch das Fenster zu, Etienne! Komm zu mir – ich habe Angst …« Und wieder Etienne: »Es ist

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