Désirée
mehr notwendig sei. Die Marschallin schrie. Sie schrie so lange, bis sie nicht mehr und nie wieder schreien konnte.
Ich komme oft mit ihr zusammen, sie ist einsilbig geworden und misstrauisch. Ihre Schreie hallen noch heute durch mein Haus …
Wie viele Gesichter sich aus dem Dunkel über michbeugten. Erschossen, eingesperrt, verbannt – Louis strich einen Namen nach dem anderen von der Liste. Zuletzt war nur noch ein einziger übrig. Da strich er auch diesen ab und schickte seinen Polizeiminister Fouché, Herzog von Otranto, in die Verbannung.
Julie in Brüssel, Joseph in Amerika. Die übrigen Bonapartes in Italien. Aber ich bin noch hier, und König Louis will mich besuchen. Plötzlich bekam ich schreckliche Angst, weil ich nicht wusste, was aus Jean-Baptistes Brief geworden war. Vielleicht habe ich ihn im Salon liegen lassen – und ich soll mich doch »dementsprechend« benehmen. – Dementsprechend! Ich spürte den Brief unter meiner Wange. Dann kam Marie herein und zündete Licht an. Sie wird mich auszanken, weil ich mit den Schuhen an den Füßen auf der seidenen Bettdecke liege, dachte ich. Aber Marie zankte mich nicht aus. Sie leuchtete mir nur ins Gesicht und betrachtete mich andächtig. Genau so, wie mich Marceline angesehen hat. »Sei nicht böse, ich ziehe mir schon die Schuhe aus!« Verlegen setzte ich mich auf. »Deine Nichte, hat mir alles gesagt. Du hättest es mir selbst erzählen können«, brummte Marie beleidigt. »Ich weiß ja, woran du denkst. Dass es meinem seligen Papa gar nicht recht wäre. Das weiß ich selbst. Du brauchst es mir nicht erst zu sagen.« »Heb die Arme, ich will dir das Kleid abstreifen, Eugénie!« Ich hob die Arme. Sie zog mir das Kleid aus. »So – und jetzt halte dich immer schön gerade und heb den Kopf, Eugénie! Es kommt nicht darauf an, was man ist. Sondern – wie man ist. Wenn du schon Königin bist, dann sei wenigstens eine gute! Wann reisen wir nach Stockholm?« Ich nahm den Brief und sah mir noch ein letztes Mal die flüchtigen Zeilen an. In solcher Eile hingekritzelt, erfüllt von Angst, ich könnte seiner unwürdig sein. Dann nahm ich eine Kerze und hielt den Bogen in die Flammen.
»Nun? Wann reisen wir, Eugenie?« »Schon in drei Tagen. Dann habe ich keine Zeit mehr, König Louis zu empfangen. Übrigens – wir reisen nach Brüssel, Marie. Julie braucht mich, und in Stockholm bin ich ganz überflüssig.« »Man kann sich doch nicht ohne uns krönen lassen!«, protestierte Marie. »Anscheinend doch. Sonst hätte man uns zur Krönung eingeladen.« Das letzte Eckchen des Briefes zerfiel in Asche. Ich suchte mein Buch und begann zum ersten Mal nach langer Zeit wieder alles aufzuschreiben. Jetzt ist es mir also wirklich passiert – ich bin Königin von Schweden!
[ Menü ]
Paris, im Juni 1821.
D er Brief lag zwischen vielen anderen Briefen auf meinem Frühstückstisch. Das dunkelgrüne Siegel zeigte deutlich das Wappen, das in der ganzen Welt verboten ist. Zuerst glaubte ich zu träumen. Ich betrachtete das Siegel von allen Seiten. Es war wirklich ein Brief mit dem Wappen des Kaisers. Und an Ihre Majestät, die Königin Desideria von Schweden und Norwegen, adressiert. Schließlich öffnete ich den sonderbaren Brief. »Madame, ich habe die Nachricht erhalten, dass mein Sohn, der Kaiser der Franzosen, am 5. Mai dieses Jahres auf der Insel St. Helena gestorben ist –« Ich sah auf. Die Kommode, der Nachttisch, die Spiegel im vergoldeten Rahmen. Nichts hatte sich verändert. Oscars Kinderbild und Jean-Baptistes kleines Porträt.
Alles sah aus wie immer. Ich konnte es nicht begreifen. Nach einer Weile las ich den Brief zu Ende. »– auf der Insel St. Helena gestorben ist. Seine irdischen Reste wurden auf Befehl des Gouverneurs der Insel mit den einem General gebührenden militärischen Ehren bestattet. Die englische Regierung hat untersagt, dass ein Grabstein mit dem Namen ›Napoleon‹ errichtet wird. Nur die Inschrift ›General N. Bonaparte‹ ist bewilligt worden. Deshalb habe ich angeordnet, dass das Grab ohne jede Inschrift zu verbleiben hat. Ich diktiere diese Zeilen meinem Sohn Lucien, der sich häufig bei mir in Rom aufhält. Mein Augenlicht hat in den letzten Jahren immer mehr nachgelassen. Ich bin leider erblindet. Lucien hat begonnen, mir die Lebenserinnerungen meines Sohnes vorzulesen, die er auf St. Helena dem Grafen de Montholon diktiert hat. Diese enthalten den Satz: ›Désirée Clary war die erste Liebe Napoleons.‹ Sie ersehen daraus,
Weitere Kostenlose Bücher