Désirée
Madame, dass mein Sohn niemals aufgehört hat, seiner ersten Liebe zu gedenken. Da man mirsagt, dass das Manuskript bald in Druck gehen wird, bitte ich Sie, uns mitzuteilen, ob dieser Satz weggelassen werden soll. Wir verstehen, dass Sie in Ihrer hohen Stellung Rücksicht zu nehmen haben, und fügen uns gern Ihrem Wunsch. Indem ich Ihnen die Empfehlungen meines Sohnes Lucien sende, verbleibe ich stets Ihre treue –« Die blinde alte Frau hatte den Brief selbst unterschrieben. Es war kaum leserlich und Italienisch: »Letitia, madre di Napoleone.« Im Laufe des Tages fragte ich meinen Neffen Marius, wie eigentlich der Brief mit dem grünen Wappen in mein Haus gekommen sei. Da ich Marius das Amt meines Hofmarschalls überlassen habe, weiß er über diese Dinge Bescheid. »Ein Attaché der schwedischen Botschaft hat ihn hergebracht. Der Brief wurde dem schwedischen Geschäftsträger in Rom übergeben. »Hast du dir das Wappen angesehen?« »Nein. War es ein wichtiger Brief?« »Es war der letzte Brief mit dem Wappen des Kaisers. Ich möchte dich bitten, dem englischen Botschafter eine Geldsumme zu überweisen und ihn zu ersuchen, dass in meinem Namen ein Blumenkranz auf das Grab auf St. Helena gelegt wird. Auf das namenlose Grab, musst du hinzufügen. »Tante, man wird deinen Wunsch nicht erfüllen können. Es gibt keine Blumen auf St. Helena, das furchtbare Klima der Insel lässt alle Pflanzen verdorren.« »Glaubst du, dass Marie-Luise jetzt den Grafen Neipperg heiraten wird, Tante? Man sagt, sie hat bereits drei Kinder von ihm«, kam es von Marceline. »Sie hat ihn längst geheiratet, mein Kind. Talleyrand hat es mir einmal erzählt. Der Papst dürfte ihre erste Ehe für ungültig erklärt haben.« »Und der Sohn dieser Ehe? Der König von Rom ist während der zweiten Abdankung des Kaisers ein paar Tage lang Napoleon II. in allen französischen Akten genannt worden«, erklärte Marius heftig. »Dieser Sohn heißt jetzt Franz Joseph Karl, Herzog von Reichstadt, Sohn der Marie-Luise,Herzogin von Parma. Talleyrand hat mir sogar eine Abschrift seines Herzogs-Patentes gezeigt.«
»Und sein Vater wird nicht einmal erwähnt?«
»Nein. Nach den Dokumenten zu schließen, ist der Vater – unbekannt.« »Wenn Napoleon gewusst hätte, was ihm bevorstand –«, begann Marceline. »Er hat es gewusst«, sagte ich nur. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch. Eine Insel ohne Blumen. Eine Insel, auf der alles verdorrt. Unser Garten in Marseille, die Wiese – ja, die Wiese. Ich begann an seine Mutter zu schreiben. »Tante Julie hat einmal angedeutet, dass du seinerzeit –« Marceline stotterte. »Vielmehr, dass er damals –« »Das wirst du in seinen Memoiren lesen können.« Ich versiegelte den Brief. »Es wird nichts weggelassen werden!«
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In einem Hotelzimmer in Aachen.
Juni 1822.
D ass ich noch einmal im Leben alles Süße, alle Angst, alle Ungeduld eines ersten Rendezvous durchkosten darf, dachte ich heute früh vor dem Spiegel. Meine Finger zitterten, während ich etwas Lippenrot auflegte. Nur nicht zu viel, ermahnte ich mich, ich bin doch schon zweiundvierzig Jahre alt, er soll nicht glauben, dass ich mich jünger machen will. Aber ich möchte ihm doch so gern gefallen … »Und wann werde ich ihn sehen?«, fragte ich zum soundsovielten Mal. »Um halb eins, Tante. In deinem Salon«, antwortete Marceline geduldig. »Aber er kommt doch schon in den frühen Vormittagsstunden an, nicht wahr?« »Da man die Stunde seiner Ankunft nicht genau bestimmen konnte, wurde der Besuch für halb eins festgesetzt, Tante.« »Und dann wird er mit mir speisen?« »Natürlich. In Begleitung seines Kammerherrn Karl Gustav Löwenhjelm.« »Dem Onkel meines Löwenhjelm.« Mein Löwenhjelm heißt auch Gustaf, man hat ihn mir erst kürzlich aus Stockholm geschickt. Als Ersatz für den heimgekehrten Grafen von Rosen. Aber er ist so pompös und unnahbar, dass ich mich kaum getraue, mit ihm zu sprechen. »Außerdem werden nur Marius und ich dabei sein. Damit du ungestört mit ihm plaudern kannst, Tante.«
Mein Löwenhjelm, sein Löwenhjelm und Marceline und Marius. Nein. Und wieder nein! Ich fasste einen Entschluss. »Marceline, sei so lieb und schick mir den Grafen Löwenhjelm!« Er wird ankommen, überlegte ich, dann wird er sich die Hände waschen und nach der langen Fahrt das Bedürfnis haben, sich Bewegung zu machen. Außerdem war er noch nie in Aachen, das Hotel liegt in derNähe des Domes, er wird sich wie jeder andere Tourist
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