Désirée
ein großes Medaillon aus Gold. »Ich habe ja kein Geld, ich schicke meinen Lohn immer dem kleinen Pierre«, murmelte sie. »Nimm deshalb das Medaillon. Es ist aus echtem Gold, und ich habe es von deiner Mama an dem Tag, an dem ich aufhörte, dich zu stillen, bekommen. Du kannst es leicht verkaufen, Eugénie!« »Verkaufen?«, fragte ich erstaunt. »Warum denn?«
»Damit du Geld für die Rückreise hast«, sagte Marie und wandte sich brüsk um. Sie wollte die Postkutsche nicht abfahren sehen.
Einen Tag, zwei, drei, vier Tage wurde ich von morgens bis abends in der Postkutsche herumgeschüttelt, eine endlose staubige Landstraße entlang, manchmal vorbei an Wiesen und Feldern, dann wieder durch Dörfer und Städte. Alle drei Stunden ein Ruck – ich fiel entweder gegen die eckige Schulter der Dame in Trauer an meiner Rechten oder auf den dicken Bauch des Mitreisenden an meiner Linken. Die Pferde wurden gewechselt, dann holperten wir weiter. Und immerfort malte ich mir aus, wie ich ins Haus der Madame Tallien gehen und nach dem General Bonaparte fragen werde. Und dann werde ich plötzlich vor ihm stehen, dachte ich, und sagen: Napoleone – nein,ich muss natürlich Napoleon sagen – also: Napoleon, ich bin zu dir gekommen, weil ich weiß, dass du jetzt kein Geld für eine Reise zu mir hast. Und wir gehören doch zusammen!
Wird er sich freuen? In dieser fremden Küche von Maries Schwester tanzen Schatten herum, die ich nicht kenne, weil ich die Möbel nicht bei Tageslicht gesehen habe. Natürlich wird er sich freuen. Er wird meinen Arm nehmen und mich zuerst seinen neuen vornehmen Freunden vorstellen. Und dann werden wir fortgehen, um allein zu sein. Wir werden spazieren gehen, weil wir kein Geld für ein Kaffeehaus haben. Vielleicht kennt er jemanden, bei dem ich wohnen kann, bis wir Mama geschrieben und ihre Einwilligung zu meiner Hochzeit erhalten haben. Und dann werden wir heiraten und – jetzt kommen sie nach Hause! Monsieur und Madame Clapain. Hoffentlich haben sie ein halbwegs anständiges Sofa, auf dem ich mich ausstrecken kann, und morgen – mein Gott, wie ich mich auf morgen freue!
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Paris, 24 Stunden – nein, eine
Ewigkeit später!
N achts, und ich sitze wieder in der Küche der Madame Clapain. Aber vielleicht bin ich gar nicht schon wieder hier, sondern noch immer. Vielleicht war dieser Tag nur ein böser Traum, vielleicht darf ich aufwachen. Aber sind nicht die Fluten der Seine über mir zusammengeschlagen? Das Wasser war so nah, die Lichter von Paris tanzen in den Wellen, tanzen und rufen, und ich habe mich über die kalte steinerne Brüstung der Brücke gebeugt. Vielleicht durfte ich wirklich sterben und mich von der Strömung treiben lassen. Quer durch Paris – treiben, fließen und nichts mehr fühlen. Ich möchte so gern tot sein.
Aber ich sitze an einem wackligen Küchentisch, und meine Gedanken gehen im Kreis. Jedes Wort höre ich, jedes Gesicht ist nahe, und der Regen trommelt an die Fenster. Es hat den ganzen Tag über geregnet. Schon auf dem Weg zum Haus der Madame Tallien bin ich ganz nass geworden. Ich hatte das schöne blauseidene Kleid an. Aber als ich durch den Garten der Tuilerien ging und dann weiter die Rue Honoré entlang, entdeckte ich, dass es für Pariser Begriffe ganz unmodern ist. Denn hier tragen die Damen Kleider, die wie Hemden aussehen und nur unter dem Busen von einem Seidenband zusammengehalten werden. Sie haben auch keine Fichus, obwohl es doch schon Herbst ist, sondern legen nur einen durchsichtigen Schal über die Schultern. Meine engen Ärmel, die bis zu den Ellenbogen reichen und mit Spitzen besetzt sind, schauen ganz unmöglich aus. Man trägt anscheinend gar keine Ärmel mehr, nur Schulterspangen. Ich schämte mich sehr, weil ich wie eine richtige Provinzgans aussehe.
Es war nicht schwer, die Chaumière in der Allée desVeuves zu finden. Madame Clapain hatte mir den Weg genau erklärt, und obwohl ich trotz meiner Ungeduld immer wieder vor den Schaufenstern im Palais Royal und der Rue Honoré stehen blieb, war ich nach einer halben Stunde am Ziel. Von außen sieht das Haus eigentlich recht bescheiden aus, kaum größer als unsere Villa und ganz in ländlichem Stil gehalten und sogar mit einem Strohdach bedeckt. Aber hinter den Fenstern schimmern Brokatvorhänge. Es war erst früh am Nachmittag, aber ich wollte ja meine große Überraschung vorbereiten und bereits in einem der Salons warten, wenn Napoleon eintraf. Da er beinahe jeden Nachmittag bei
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