Désirée
fiel, als ich nachmittags mit Marie im Gartenhäuschen saß. Die Rosenwaren längst verblüht, Zweige und Blätter hoben sich scharf wie Silhouetten vom gläsernen Blau des Himmels ab. Es war einer jener ersten Herbsttage, an denen man so richtig spürt, dass irgendetwas im Sterben begriffen ist. Und vielleicht erscheinen gerade deshalb nicht nur alle Konturen, sondern auch alle Gedanken besonders klar und scharf umrissen. Plötzlich ließ ich eine Serviette, an deren B-Monogramm ich stichelte, sinken. »Ich muss nach Paris«, sagte ich. »Ich weiß, dass es verrückt ist und dass es die Familie nie erlauben wird. Aber – ich muss nach Paris.« Marie, die Erbsen auslöste, sah nicht auf. »Wenn du nach Paris musst, dann fahr eben nach Paris.« Ich beobachtete mechanisch einen Mistkäfer, der sich in grüngoldenem Gefunkel über die Tischplatte bewegte. »Es ist ganz einfach«, meinte ich. »Wir beide sind ja allein im Haus. Ich könnte morgen die Postkutsche nach Paris nehmen.«
»Du hast ja genug Geld«, sagte Marie und sprengte eine dicke Erbsenschote zwischen beiden Daumen auf. Die Schote explodierte mit einem kleinen Knall, der Mistkäfer kroch unverdrossen weiter über den Tisch. »Es reicht wahrscheinlich für die Hinreise. Wenn ich höchstens zweimal nachts ein Hotelzimmer nehme. Die beiden anderen Nächte kann ich ja im Schankraum der Poststation verbringen. Vielleicht gibt es sogar eine Bank oder ein Sofa in diesen Warteräumen.«
»Ich dachte, du hast mehr Geld zusammengespart«, sagte Marie und sah zum ersten Mal auf. »Unter den Nachthemden in der Kommode.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich – ich habe jemandem einen größeren Betrag geborgt.«
»Und wo wirst du in Paris übernachten?«
Der Mistkäfer hatte das Ende der Tischplatte erreicht. Ich hob ihn auf, drehte ihn vorsichtig um und sah zu, wie er den Rückweg antrat. »In Paris?«, überlegte ich. »Ja,darüber habe ich nicht nachgedacht. Das kommt doch darauf an, nicht wahr?« »Ihr habt deiner Mama versprochen, mit der Hochzeit bis zu deinem sechzehnten Geburtstag zu warten. Du willst trotzdem bereits jetzt nach Paris?« »Marie, wenn ich nicht jetzt fahre, dann ist es vielleicht zu spät. Dann kommt es vielleicht gar nicht zur Hochzeit!«, entfuhr es mir. Zum ersten Mal sprach ich aus, was ich bisher kaum zu denken gewagt hatte. Maries Erbsenschoten knallten. »Wie heißt sie denn?«, erkundigte sie sich. Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht genau. Vielleicht ist es die Tallien. Vielleicht aber auch die andere, die Geliebte von Barras. Die heißt Josephine, eine ehemalige Gräfin. Ich weiß ja nichts Bestimmtes … du – Marie, du darfst nicht schlecht von ihm denken, er hat mich ja so lange nicht gesehen! Wenn er mich wieder sieht, dann –«
»Ja«, sagte Marie, »du hast Recht. Du musst nach Paris. Mein Pierre musste damals zu den Soldaten und ist nie mehr zu mir zurückgekehrt. Obwohl ich den kleinen Pierre bekommen hatte und ihm schrieb, dass das Kind in Pflege ist und ich als Amme ins Haus Clary gehen musste, weil ich kein Geld hatte. Mein Pierre hat mir nicht einmal geantwortet. Ich hätte eben versuchen müssen, zu ihm zu kommen.« Ich kannte Maries Geschichte. Sie hat sie mir so oft erzählt, dass ich geradezu mit ihrer unglücklichen Liebe aufgewachsen bin. Wie ein vertrautes altes Lied erscheint mir die Geschichte vom treulosen Pierre. »Du konntest nicht zu ihm, es war zu weit«, sagte ich. Der Mistkäfer hatte wieder eine Tischkante erreicht. Er krabbelte verzweifelt und glaubte, am Ende der Welt angelangt zu sein. »Du fährst nach Paris«, sagte Marie. »Du kannst dort die ersten Nächte bei meiner Schwester verbringen. Dann wird man weitersehen.«
»Ja, dann wird man weitersehen«, sagte ich und stand auf. »Ich gehe jetzt in die Stadt und erkundige mich, wannmorgen früh die Postkutsche abfährt.« Den Mistkäfer setzte ich auf den Rasen. Abends packte ich eine Reisetasche voll. Da die ganze Familie weggefahren war, fand ich nur eine ganz alte und sehr schäbige. Ich stopfte das blauseidene Kleid hinein, das ich zu Julies Hochzeit bekommen habe. Mein schönstes Kleid. Ich werde es anziehen, wenn ich in das Haus der Madame Tallien gehe, um ihn wieder zu sehen, dachte ich. Am nächsten Morgen begleitete mich Marie zur Postkutsche. Wie im Traum ging ich den so vertrauten Weg zur Stadt. Wie in einem sehr, sehr schönen Traum, in dem man weiß, dass man das einzig Richtige tut. Im letzten Augenblick gab mir Marie
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