Désirée
letzten Augenblick hatte ich das Tagebuch eingesteckt. Zuerst habe ich zurückgeblättert und nachgelesen, wie alles kam. Und jetzt versuche ich, mit einer gespaltenen Feder, die ich neben der verstaubten Tintenflasche auf dem Küchenschrank fand, aufzuschreiben, warum ich durchgebrannt bin.
Ein ganzes Jahr ist vergangen, seitdem ich zuletzt in mein Buch schrieb. Aber im Leben einer Strohwitwe – das heißt, einer Strohbraut mit dem Bräutigam in Paris – ereignet sich so gut wie gar nichts. Etienne verschaffte mir Batist für Taschentücher und Nachthemden und Damast für die Tischtücher und Leinwand für Bettwäsche und zog das Geld dafür von meiner Mitgift ab. Ich stickte ein geschwungenes B nach dem anderen und zerstach mir die Finger und besuchte abwechselnd Madame Letitia in ihrer Kellerwohnung und Julie und Joseph in der reizenden kleinen Villa. Aber Madame Letitia spricht von nichts anderem als von der Inflation und der Teuerung und dass Napoleone ihr schon lange kein Geld mehr geschickt hat. Julie und Joseph dagegen blicken einander immerfort tief in die Augen und machen Bemerkungen, die kein Außenstehender verstehen kann, und kichern und wirken unverschämt glücklich, aber gleichzeitig etwas idiotisch. Ich ging aber trotzdem sehr oft zu ihnen, weil Julie stets wissen wollte, was mir Napoleone schrieb, und ich wiederum Napoleones Briefe an Joseph zu lesen bekam.
Leider haben wir alle miteinander den Eindruck, dass esmeinem Bräutigam in Paris entsetzlich schlecht geht. Vor einem Jahr ist er mit seinen beiden Adjutanten und Louis – den dicken Jungen hatte er noch im letzten Moment mitgenommen, um Madame Letitia wenigstens diese Sorge abzunehmen – in Paris angekommen. Im Kriegsministerium hatte es wie erwartet einen Riesenkrach gegeben, weil er nicht befehlsgemäß in die Vendée abgerückt war. Natürlich sprach Napoleone wieder von seinen italienischen Plänen, und nur um ihn loszuwerden, schickte ihn der Kriegsminister an die italienische Front. Auf Inspektion, von Oberkommando keine Rede. Napoleone reiste ab, wurde von den meisten Generälen an der Südfront entweder gar nicht empfangen oder erhielt den Bescheid, sich nicht in das Kommando anderer Offiziere zu mengen, bekam dann Malaria und kehrte mit gelbem Gesicht und abgewetzter Uniform nach Paris zurück. Als er wieder im Kriegsministerium erschien, bekam der Kriegsminister einen Tobsuchtsanfall und wies ihm die Tür. Anfangs erhielt Napoleone wenigstens noch an jedem Ersten einen halben Monatslohn ausgezahlt, dann wurde er einfach aus dem Armeedienst entlassen. Ohne Pension. Eine fürchterliche Situation … Wovon er eigentlich lebt, ist uns unklar. Von der Uhr seines Vaters, die er versetzte, vielleicht drei Tage lang. Louis hatte er gezwungen, in die Armee einzutreten, da er ihn nicht länger unterstützen konnte. Zeitweise macht Napoleone Aushilfsarbeit im Kriegsministerium. Zeichnet dort Militärkarten und verdirbt sich dabei die Augen. Eine große Sorge waren seine zerrissenen Hosen. Die Italienreise hat nämlich seiner schäbigen Uniform den Rest gegeben, und er hat selbst versucht, die Hose zu flicken. Aber die Nähte platzten immer wieder. Natürlich hat er ein Gesuch geschrieben, um eine neue Uniform zugeteilt zu erhalten. Aber einem General außer Dienst lässt der Staat keine Uniform zukommen. In seinerVerzweiflung ist er dorthin gegangen, wohin sich alle wenden, die etwas durchsetzen wollen. In die »Chaumière«, das Haus der schönen Madame Tallien. Wir haben jetzt eine Regierung, die man »Direktorat« nennt und die von fünf Direktoren geleitet wird. Aber nur einer unserer Direktoren hat wirklich etwas zu sagen, behauptet Joseph, und zwar Direktor Barras. Was immer in unserem Land passiert, Barras schwimmt an der Oberfläche. (Wie ein Stückchen Dreck im Hafen, finde ich. Aber so spricht man vielleicht nicht über ein Staatsoberhaupt. Eines von fünf Staatsoberhäuptern …) Dieser Barras ist ein gebürtiger Graf, aber das hat ihm nichts geschadet, weil er rechtzeitig fanatischer Jakobiner wurde. Dann hat er mit Tallien und einem Abgeordneten, der Fouché heißt, Robespierre gestürzt und die Republik vor dem »Tyrannen« gerettet. Er übersiedelte in eine Dienstwohnung im Palais Luxembourg und wurde einer unserer fünf Direktoren. Ein Staatsoberhaupt muss alle wichtigen Leute empfangen, und weil Barras nicht verheiratet ist, hat er Madame Tallien gebeten, ihr Haus jeden Nachmittag seinen Gästen und denen der
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