Désirée
Händen. Ich kann ja nichts dafür, dass ich wie gelähmt in der Tür stehen blieb und den Rücken mit den breiten Schultern entsetzt anstarrte. Aber der Halbkreis fand mein Benehmen sonderbar, Joseph betrachtete mich über die Schulter seines Gastes, die anderenfolgten seinem Blick, schließlich bemerkte der Turm von einem Mann, dass hinter seinem Rücken irgendetwas Seltsames vorging, unterbrach sich, folgte den Augen der anderen und wandte sich um. Sein Blick wurde ganz weit vor Erstaunen. Ich konnte vor Herzklopfen kaum atmen. »Désirée – komm doch, wir warten auf dich«, sagte Julie. Gleichzeitig trat Joseph auf mich zu, nahm meinen Arm und sagte: »Und das ist die kleine Schwester meiner Frau, General Bernadotte! Meine Schwägerin Mademoiselle Désirée Clary.« Nein, ich sah ihn nicht an. Ich hielt die Augen krampfhaft auf einen seiner Goldknöpfe geheftet, spürte wie im Traum, dass er meine Hand höflich an die Lippen zog, und hörte dann wie aus weiter Ferne Josephs Stimme: »Wir sind unterbrochen worden, lieber General. Sie wollten eben sagen, dass –«
»Ich – ich fürchte, ich habe vergessen, was ich eben sagen wollte.« Unter tausend Stimmen hätte ich seine Stimme erkannt. Die Stimme von der regenschwarzen Brücke, die Stimme aus der dunklen Wagenecke, die Stimme vor dem Tor des Hauses in der Rue du Bac. »Bitte zu Tisch«, sagte Julie. Aber General Bernadotte rührte sich nicht. »Bitte zu Tisch«, wiederholte Julie und trat auf ihn zu. Nun bot er ihr den Arm, Joseph und Josephine, Lucien, seine rundliche Christine und ich folgten.
Das intime Familiendiner aus politischen Gründen verlief anders – mein Gott, so ganz anders, als Joseph gedacht hatte. Plangemäß saß General Bernadotte zwischen der Dame des Hauses und der Gattin des Generals Napoleon Bonaparte. Joseph hatte Lucien den Platz an der Seite Josephines überlassen, um sich General Bernadotte genau gegenüber niederzusetzen und das Gespräch mit ihm zu dirigieren.
Aber General Bernadotte schien zerstreut zu sein. Mechanisch begann er sich mit der schrecklich teurenForellenvorspeise zu beschäftigen. Joseph musste ihm zwei Mal zutrinken, bevor er nach dem Glas griff. Ich konnte ihm ansehen, dass er konzentriert nachdachte. Er versuchte nämlich, sich genau daran zu erinnern, was man ihm damals im Salon der Tallien erzählt hatte. Napoleon hatte eine Braut in Marseille. Ein junges Mädchen mit einer großen Mitgift. Sein Bruder ist mit der Schwester dieses jungen Mädchens verheiratet. Napoleon lässt Braut und Mitgift im Stich … Joseph musste ihn drei Mal anrufen, um ihn zu erinnern, dass wir alle mit dem Ehrengast anstoßen wollten. Hastig hob er sein Glas. Dann schien er sich auf seine Pflichten als Tischherr zu besinnen. Abrupt wandte er sich an Julie. »Lebt Ihre Schwester schon lange in Paris?« Die Frage kam so plötzlich, dass Julie zusammenzuckte und sie nicht ganz verstand. »Sie sind doch beide aus Marseille, nicht wahr? Ich meine, lebt Ihre Schwester schon lange in Paris?«, beharrte er. Julie hatte sich gesammelt. »Nein, erst seit ein paar Monaten. Es ist ihr erster Pariser Aufenthalt. Und es gefällt ihr hier sehr gut, nicht wahr, Désirée?«
»Paris ist eine wunderschöne Stadt«, brachte ich steif wie ein Schulkind hervor. »Ja, wenn es nicht regnet«, sagte er, und seine Augen wurden schmal. »Oh – auch, wenn es regnet!«, warf Christine, die Gastwirtstochter aus St. Maximin, eifrig ein. »Paris ist eine Märchenstadt, finde ich.«
»Sie haben Recht, Madame. Es gibt auch Märchen, wenn es regnet«, sagte Bernadotte ganz ernst. Joseph begann unruhig zu werden. Er hatte den künftigen Kriegsminister nicht mit Aufbietung aller schriftlichen Überredungskünste in sein Heim gelockt, damit man über das Wetter und dessen Einfluss auf Märchen diskutiere. »Ich hatte gestern einen Brief meines Bruders Napoleon«, sagte er bedeutungsvoll. Aber das schien Bernadotte überhaupt nicht zu interessieren. »Mein Bruder schreibt, dass dieReise plangemäß verläuft und die englische Flotte unter Nelsons Kommando sich bisher überhaupt nicht blicken ließ.«
»Dann hat Ihr Bruder mehr Glück als Verstand«, meinte Bernadotte gut gelaunt und hob Joseph sein Glas entgegen: »Auf das Wohl des Generals Bonaparte, ich bin ihm sehr zu Dank verpflichtet!« Joseph wusste sicherlich nicht, ob er beleidigt oder erfreut sein sollte. Übrigens bestand kein Zweifel, dass sich Bernadotte dem Rang nach Napoleon durchaus gleichgestellt
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