Désirée
den Wagen zu begleiten. Da schoben sie sich plötzlich aus dem Nebel: diese Unbekannten, die mit uns diese endlose Nacht verwartet haben. »Vive Bernadotte!«, schrie jemand. Es verzitterte. »Vive Bernadotte, vive Bernadotte!« Es waren nur drei, vier Stimmen. Und es war lächerlich, dass Joseph so erschrocken zusammenzuckte.
Ein grauer Regentag ist angebrochen. Soeben hat ein Offizier der Nationalgarde folgende Meldung abgegeben: Befehl des Ersten Konsuls – General Bernadotte hat sich um elf Uhr bei ihm in den Tuilerien einzufinden.«
Ich schließe mein Buch und versperre es. Dann werde ich es zu Julie bringen.
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Paris, 21. März 1804.
(Nur die Behörden halten sich
noch an den republikanischen
Kalender und schreiben heute:
1. Germinal des Jahres XII.)
E s ist verrückt von mir, nachts allein in die Tuilerien zu fahren, um mit ihm zu sprechen. Darüber war ich mir von Anfang an klar. Trotzdem stieg ich in Madame Letitias Wagen und versuchte, mir zu überlegen, was ich ihm sagen wollte. Irgendeine Uhr schlug elf. Ich werde durch die langen leeren Korridore der Tuilerien gehen und in sein Arbeitszimmer eindringen und vor seinen Schreibtisch treten und ihm erklären, dass – Der Wagen rollte an der Seine entlang. Im Laufe der Jahre habe ich die meisten Brücken genau kennen gelernt. Aber jedes Mal, wenn ich an einer bestimmten Brücke vorbeikomme, setzt mein Herz einen Schlag lang aus. Ich ließ plötzlich halten und stieg aus und ging auf sie zu. Auf meine Brücke nämlich. Es war eine der allerersten Frühlingsnächte des Jahres. Von richtigem Frühling war noch gar nicht die Rede, aber die Luft war weich und roch süß. Den ganzen Tag über hatte es geregnet, aber jetzt zerbrachen die Wolkenmassen und man sah Sterne. Er kann ihn nicht erschießen lassen, dachte ich. In den Fluten der Seine tanzten die Sterne mit den Lichtern von Paris. Er kann ihn nicht erschießen lassen.
Kann nicht? Er kann alles. Langsam begann ich auf der Brücke auf und ab zu gehen. Ohne Pause habe ich all diese Jahre durchlebt. Habe auf Hochzeiten getanzt und vor Napoleon in den Tuilerien den großen Hofknicks gemacht, habe den Sieg von Marengo bei Julie gefeiert und dabei so viel Champagner getrunken, dass mir Marie am nächsten Morgen den Kopf über die Waschschüssel haltenmusste. Ich habe ein gelbseidenes Abendkleid gekauft und ein silberfarbenes mit rosa Perlenstickerei und drei weiße mit grünen Samtschleifen. Das waren die kleinen Ereignisse. Die großen – Oscars erster Zahn und Oscars erstes »Mama« und Oscar, der zum ersten Mal an meiner Hand auf dicken, unsicheren Beinchen vom Klavier bis zur Kommode stapfte. Und nun begann ich plötzlich an diese vergangenen Jahre zu denken. Erinnerte mich an sie und versuchte verzweifelt, den Augenblick hinauszuschieben, in dem ich beim Ersten Konsul eindringen sollte. Julie hat mir erst vor ein paar Tagen mein Buch zurückgegeben. »Ich habe meine Kommode ausgeräumt, das Mahagoniungetüm, das ich noch aus Marseille habe«, sagte sie. »Die Kommode stelle ich jetzt ins Kinderzimmer, die Kinder haben schon so viele Sachen, sie brauchen sie. Und da habe ich dein Buch gefunden. Jetzt muss ich es doch nicht mehr aufheben, nicht wahr?«
»Nein, nicht mehr«, sagte ich. Und fügte hinzu: »Oder vielmehr – noch nicht.«
»Du wirst sehr viel nachzutragen haben«, meinte Julie und lächelte. »Ich glaube, du hast nicht einmal aufgeschrieben, dass ich zwei Töchter habe!«
»Nein, ich habe dir ja das Buch in der Nacht nach dem Umsturz gegeben. Aber jetzt werde ich aufschreiben, dass du regelmäßig zur Kur nach Plombières gefahren bist und deinen Joseph mitgenommen hast und dass vor mehr als zweieinhalb Jahren Zenaïde Charlotte Julie zur Welt kam und dreizehn Monate später Charlotte Napoleone. Und dass du noch immer so viele Romane liest und von einer Haremsgeschichte so begeistert warst, dass Fräulein Tochter Nummer eins ›Zenaïde‹ getauft wurde.«
»Hoffentlich verzeiht sie mir das«, sagte Julie reumütig. Ich nahm ihr das Buch aus der Hand. Ich muss vor allem aufschreiben, dass Mama gestorben ist, dachte ich. LetztenSommer war es, ich saß mit Julie in unserem Garten, und plötzlich trat Joseph mit Etiennes Brief auf uns zu. Mama war nach einem Herzanfall in Genua gestorben. »Jetzt sind wir ganz allein«, sagte Julie. »Du hast doch mich«, drängte Joseph. Er verstand uns nicht. Julie gehört zu ihm und ich zu Jean-Baptiste, aber seit Papas Tod hatten wir nur noch
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