Désirée
Mama, die sich daran erinnerte, wie alles war, als wir noch klein waren. Am Abend dieses Tages sagte Jean-Baptiste zu mir: »Du weißt, dass wir alle Naturgesetzen unterworfen sind. Diese Naturgesetze bedingen, dass wir unsere Eltern überleben. Der umgekehrte Fall ist unnatürlich. Wir müssen uns den Naturgesetzen fügen.« Es war sein Versuch, mich zu trösten. Jeder Frau, die von Schmerzen zerrissen wird, während sie ihr Kind gebärt, sagt man, dass sie das Schicksal aller Mütter zu teilen hat. Aber das ist kein Trost, finde ich. Von meiner Brücke aus wirkte der Wagen der Madame Letitia wie ein schwarzes Ungeheuer, das drohend auf mich lauerte. Auf Napoleons Schreibtisch liegt ein Todesurteil, und ich werde ihm sagen – ja, was werde ich ihm sagen? Man darf ja nicht mehr mit ihm sprechen wie mit anderen Leuten, man darf sich nicht niedersetzen, wenn er einen nicht dazu auffordert. An jenem Vormittag nach der endlosen Nacht, in der wir die Verhaftung von Jean-Baptiste erwartet hatten, kam es zu einer Aussprache zwischen ihm und Napoleon. »Sie sind in den Staatsrat gewählt worden, Bernadotte. Sie werden in meinem Staatsrat das Kriegsministerium repräsentieren«, sagte der Erste Konsul zu ihm. »Glauben Sie denn, dass ich in einer einzigen Nacht meine Einstellung verändert habe?«, antwortete Jean-Baptiste. »Nein, aber ich bin in dieser einzigen Nacht für die Republik verantwortlich geworden und kann mir nicht gestatten, auf einen ihrer fähigsten Männer zu verzichten. Nehmen Sie die Berufung an, Bernadotte?« Jean-Baptiste hat mir erzählt, dass nun einelange Pause entstand. Eine Pause, in der er zuerst den hohen Raum in den Tuilerien mit dem riesigen Schreibtisch, der auf vergoldeten Löwenköpfen ruhte, betrachtete. Eine Pause, in der er dann zum Fenster hinausblickte und unten die Soldaten der Nationalgarde mit ihren blauweißroten Kokarden beobachtete. Eine Pause, in der er sich sagte, dass die Direktoren vor ihrem Rücktritt die konsuläre Regierung anerkannt hatten. Dass sich die Republik diesem Mann da ausgeliefert hatte, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden. »Sie haben Recht, die Republik braucht jeden ihrer Bürger, Konsul Bonaparte. Ich nehme daher die Berufung an.« Bereits am nächsten Tag wurden Moreau und alle verhafteten Abgeordneten wieder auf freien Fuß gesetzt. Moreau erhielt sogar ein Kommando. Napoleon bereitete einen neuen italienischen Feldzug vor und ernannte Jean-Baptiste zum Oberbefehlshaber unserer Westarmee. Jean-Baptiste befestigte die Kanalküste gegen englische Angriffe und befehligte alle Garnisonen von der Bretagne bis zur Gironde. Einen großen Teil seiner Zeit verbrachte er in seinem Hauptquartier in Rennes und war nicht zu Hause, als Oscar Keuchhusten hatte. Napoleon gewann die Schlacht bei Marengo, und Paris feierte sich halb tot. Heute sind unsere Truppen über ganz Europa verstreut, weil Napoleon in seinen Friedensbedingungen die Abtretung zahlloser Gebiete an Frankreich verlangt hat und die Republik diese Länder besetzt hält.
Wie viele Lichter jetzt in der Seine tanzen, viel mehr als damals. Damals dachte ich, dass es nichts Großartigeres und Aufregenderes als Paris geben kann. Aber Jean-Baptiste sagt, dass unser heutiges Paris hundertmal märchenhafter ist als das ehemalige und dass ich eben den Unterschied nicht beurteilen kann. Napoleon hat den geflüchteten Aristokraten erlaubt, zurückzukommen. In dem Palais des Faubourg St. Germain werden wiederIntrigen gesponnen, konfiszierte Gärten werden zurückgegeben, Fackelträger laufen neben den Kaleschen Noailles, der Radziwills, der Montesquieus, der Montmorencys, mit gemessen anmutigen Schritten bewegen sich diese ehemaligen Größen des Versailler Hofes durch die Säle der Tuilerien und verneigen sich vor dem Staatsoberhaupt der Republik und beugen sich über die Hand der früheren Witwe de Beauharnais, die niemals ins Ausland geflüchtet ist und auch nie gehungert hat, sondern sich von Monsieur Barras ihre Rechnungen bezahlen ließ und mit dem Exlakai Tallien auf dem Ball der »Angehörigen der Guillotine-Opfer« tanzte. Die ausländischen Königshöfe senden wieder ihre vornehmsten Diplomaten nach Paris. Mir wird oft ganz wirr zumute, wenn ich mir die Titel von all diesen Fürsten, Grafen und Baronen, die mir vorgestellt werden, merken soll. »Ich habe Angst vor ihm, er hat doch kein Herz …« Ganz deutlich hörte ich ihre Stimme in dieser Vorfrühlingsnacht auf der Brücke. Christine. Christine, das
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