Dessen, S
»Aber ich möchte auch nicht jede Sekunde nur lernen.«
»Oh«, meinte sie. Ein trockenes, ausdrucksloses Oh. »Ich vermute, das gehört alles zu dieser Phase des ›Erblühens‹, oder? Studieren ist auf einmal unwichtig, zurzeit zählen nur Jungs und Freundinnen und Mode?«
»Natürlich nicht, aber …«
Lautes Seufzen unterbrach mich. »Ich hätte wissen müssen, was für Konsequenzen es hat, wenn du einen ganzen Sommer mit Heidi verbringst«, meinte sie. »Achtzehn Jahre lang habe ich mich bemüht, dir nahezubringen, wie wichtig es ist, sich selbst ernst zu nehmen, das eigene Selbstwertgefühl zu stärken. Und dann dauert es gerade mal ein paar Wochen und schon trägst du rosa Bikinis und rennst irgendwelchen jungen Männern hinterher.«
»Mom«, sagte ich, lauter als beabsichtigt. »Es geht hier nicht um Heidi.«
»Nein«, gab sie wie aus der Pistole geschossen zurück. »Es geht darum, warum du plötzlich alles aufgibst, was bisher wichtig war, deinen Ehrgeiz, deine Zielstrebigkeit und Konzentration. Wie kannst du dich nur so gehen lassen?«
Auf einmal ging mir ein Satz meines Vaters durch denKopf: dass alles, was ich bisher geleistet hatte, dem Namen zu verdanken war, den er für mich ausgewählt hatte. Alles Positive war ihr Verdienst, alles Negative meine Schuld. Ich biss mir auf die Lippen. »Ich habe mich nicht verändert«, sagte ich. »So bin ich eben. Auch.«
Schweigen. Und während dieses Schweigens wurde mir bewusst, dass die Tatsache, dies könnte tatsächlich der Wahrheit entsprechen, schlimmer war, als es jeder rosa Bikini oder Tunichtgut von Kommilitone je sein konnten.
»Na schön, ich schicke dir den Fragebogen zu.« Sie atmete tief durch. »Dann kannst du deine eigene Entscheidung treffen.«
Ich schluckte. »Okay.«
Einen Moment lang schwiegen wir beide. Wie kamen wir aus dieser Sackgasse wieder heraus? Wie konnten wir die riesige Kluft zwischen uns überbrücken? Ich war mir sicher, es gab eine Million Möglichkeiten, doch meine Mutter überraschte mich, indem sie sich für keine einzige davon entschied. Denn sie legte einfach auf, hinterließ mir nichts als ein lautes Klicken in der Leitung – und den phänomenalen Umstand, dass ausnahmsweise ich das letzte Wort gehabt hatte. Allerdings auch keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen sollte.
***
Streit lag anscheinend in der Luft. Denn als ich mein Zimmer zwanzig Minuten später verließ, um zur Arbeit zu gehen, hatten Thisbes künstliche Wellen aufgehört. Aus ihrem Zimmer drang nun ein anderes Geräusch: nörgelndes Maulen.
»Natürlich hast du alles Recht der Welt auszugehen«, sagte mein Vater. »Ich weiß bloß nicht, ob es ausgerechnet heute Abend so günstig ist, das ist alles.«
»Warum nicht?«, fragte Heidi. Thisbes Krähen verstärkte den ansteigenden Geräuschpegel aus dem Hintergrund. »Ich bin zu ihrer normalen Essenszeit um neun zurück, sie hat gerade geschlafen …«
»Um neun? Jetzt ist es erst halb sechs!«
»Robert, wir wollten etwas essen gehen und vorher vielleicht noch einen Cocktail trinken.«
»Wo? In Istanbul?«, gab mein Vater zurück. »Die ganze Aktion kann doch unmöglich geschlagene dreieinhalb Stunden in Anspruch nehmen.«
Eine längere Pause entstand. Um mir Heidis Gesichtsausdruck vorzustellen, brauchte ich gar nicht heimlich ins Zimmer zu spähen. Schließlich brach mein Vater das Schweigen: »Ich möchte ja, dass du dich amüsierst, Liebling. Aber es ist lang her, seit ich das letzte Mal soviel Zeit mit einem Neugeborenen verbracht habe, und ich habe nur …«
»Sie ist kein Neugeborenes, sondern deine Tochter.« Thisbes Glucksen klang wie ein zustimmender Kommentar. »Du hast zwei wunderbare Kinder großgezogen. Du schaffst das. Und jetzt nimm sie bitte, damit ich mich fertig machen kann.«
Ich hörte, wie mein Vater etwas sagte. Gleichzeitig öffnete sich die Tür, ich hechtete außer Sichtweite: zu spät!
»Auden?«, rief er. »Könntest du …«
»Nein, kann sie nicht«, antwortete Heidi über ihreSchulter hinweg und versetzte mir einen freundlichen Schubs. »Einfach weitergehen. Er kommt schon klar.«
Als wir den Treppenabsatz erreichten, drehte ich mich verblüfft zu ihr um. Denn das war nicht mehr die etwas verlotterte Heidi, an deren Anblick (die unvermeidlichen Augenringe, Sweatshirt und Sweatpants, strähniger Pferdeschwanz) ich mich mittlerweile gewöhnt hatte, sondern eine vollkommen neue Frau. Ihre Haare waren glatt und glänzten, sie war perfekt geschminkt,
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