Dessen, S
brauchst du irgendwie Hilfe oder so etwas?«
Zitternd atmete sie ein, blickte dann zu mir hoch. Sie hatte dunkle Augenränder und auf ihrem Kinn prangte eine Ansammlung feuerroter Minipickel (vielleicht auch eine Art Ausschlag). »Nein.« Prompt stiegen ihr erneut Tränen in die Augen. »Alles in Ordnung. Es ist bloß … nein, mir geht es gut.«
Was selbst in meinen Ohren unglaubwürdig klang, dabei hatte ich mit Situationen wie dieser nun wirklich keine Erfahrung. Allerdings auch keine Zeit zu widersprechen, denn in dem Moment kam mein Vater herein. Er trug ein Plastiktablett mit Kaffeebechern, eine kleine, braune Papiertüte und seine übliche Kluft: verknitterteKhakihosen, Hemd darüber, nicht reingesteckt, und die Brille irgendwie schief auf der Nase. Wenn er unterrichtete, ergänzte er dieses Outfit durch Jackett und Schlips. Turnschuhe – sein Markenzeichen – hatte er allerdings immer an, egal, wie er sonst gekleidet war.
»Da ist sie ja!«, meinte er, als er mich bemerkte. Trat zu mir, um mich zu umarmen. Während er mich an sich zog, blickte ich über seine Schulter hinweg zu Heidi, die sich auf die Unterlippe biss und durch die große gläserne Schiebetür aufs Meer schaute. »Wie war die Fahrt?«
»Gut«, antwortete ich gedehnt. Er löste sich von mir, bot mir einen der drei Kaffeebecher an, nahm sich selbst und stellte dann den letzten vor Heidi auf den Beistelltisch. Sie starrte ihn an, als hätte sie keine Ahnung, was das war.
»Hast du deine Schwester schon kennengelernt?« Er wandte sich wieder zu mir um.
»Äh … nein«, erwiderte ich. »Noch nicht.«
»Aha!« Er legte die Tüte weg, beugte sich über Heidi – die sich krampfhaft versteifte – und nahm das Baby aus ihren Armen. »Da ist sie. Das ist Thisbe.«
Ich betrachtete das Gesicht des Babys. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Wimpern kurz und fein. Eine Hand ragte unter der Decke hervor – so winzige Finger …
»Sie ist wunderschön«, sagte ich. Denn so etwas sagte man ja wohl bei solchen Anlässen.
»Nicht wahr?« Dad grinste, schaukelte sie sanft in seinen Armen. Ihre Äuglein öffneten sich. Sie blickte zu uns hoch, blinzelte – und begann auf einmal zu weinen,genau wie zuvor ihre Mutter. »Ups«, sagte er, wiegte sie ein wenig hin und her. Sofort weinte Thisbe etwas lauter. »Schatz?« Mein Vater drehte sich zu Heidi um, die sich nicht gerührt hatte, noch exakt so dasaß wie zuvor, nur dass ihre Arme jetzt schlaff herabhingen. »Ich glaube, sie hat Hunger.«
Heidi schluckte, wandte sich ihm wortlos zu. Und nachdem mein Vater ihr Thisbe gegeben hatte, drehte sie sich ebenso wortlos wieder Richtung Fenster, fast roboterartig. Während das Baby immer durchdringender schrie.
»Komm, wir gehen raus«, sagte mein Vater und schnappte sich die Papiertüte vom Tisch. Er öffnete die Schiebetür und ich folgte ihm auf die Terrasse. Normalerweise hätte es mir bei dem Blick die Sprache verschlagen – das Haus stand wirklich unmittelbar am Meer, ein kleiner Steg führte direkt zum Strand –, doch jetzt drehte ich mich unwillkürlich zu Heidi um. Sie war verschwunden. Ihr Kaffeebecher stand unberührt auf dem Tisch.
»Alles in Ordnung mit ihr?«, fragte ich.
Er öffnete die Tüte, holte einen Muffin heraus, hielt ihn mir hin. Ich schüttelte dankend den Kopf. »Sie ist müde.« Er biss hinein, wischte die Krümel weg, aß beim Sprechen weiter. »Das Baby ist nachts oft wach und ich bin keine große Hilfe, weil ich zu Schlafstörungen neige, wenn ich nicht regelmäßig meine neun Stunden bekomme. Und dann bin ich am nächsten Tag zu nichts zu gebrauchen. Ich versuche schon die ganze Zeit, sie davon zu überzeugen, dass sie sich Hilfe holt, aber sie tut es einfach nicht.«
»Warum nicht?«
»Du kennst doch Heidi«, erwiderte er, als wäre das tatsächlich der Fall. »Sie muss alles allein machen. Und perfekt. Aber keine Angst, das wird schon. Die ersten Monate sind die schwersten. Ich weiß noch, bei Hollis ist deine Mutter halb durchgedreht. Natürlich lag es auch daran, dass er solche Koliken hatte. Die ganze Nacht sind wir mit ihm auf dem Arm herummarschiert, trotzdem hat er wie am Spieß gebrüllt. Und dieser gewaltige Hunger! Meine Güte! Er hat deine Mutter leer gesaugt und konnte immer noch nicht genug bekommen …«
Er redete weiter, aber die Leier hatte ich schon so oft gehört, dass ich abschaltete und meinen Kaffee trank. Links von uns standen weitere Häuser, dahinter gab es eine Art Promenade mit
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