Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Deutschboden

Deutschboden

Titel: Deutschboden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Uslar
Vom Netzwerk:
Bundesländer eben wirklich gerne hatte und auf meine Art auch gut kannte, und selbstverständlich, erklärte ich, würde ich den Gag automatisch auf seine Lustigkeit hin überprüfen, sobald mein Aufenthalt im Osten begann.
     
    Und ich erzählte der Runde nun von meinen Ausflügen, die ich vor Ewigkeiten, im November 1989, für den Großen DDR – Diskotheken-Test mit Christian Kracht, dem damaligen Tempo – Volontär und heutigen Schriftsteller, in die DDR gemacht hatte: Wie wir uns auf den riesigen braunen LPG – Feldern gegenseitig mit Polaroid-Kameras fotografiert hatten; wie wir uns, auf den Betten in den Interhotels sitzend, über die interhotel-eigenen Badeschlappen kaputtgelacht hatten; wie wir bei DDR – Dissidenten zwischen Topfpflanzen und braun gestrichenen Raufasertapeten in Altbauwohnungen am Prenzlauer Berg zu Interviews geladen waren und keine Ahnung hatten, welche Fragen hier die passenden waren; wie der Autofahrer Kracht den Volkspolizisten in Dresden erklärte, dass er seinen Führerschein – er bitte um Nachsicht – im Hotel »Gastmahl des Meeres« in Berlin, der Hauptstadt der DDR, liegen gelassen habe. Kracht und ich waren, Jahre bevor dieser Begriff erfunden wurde, Ostalgiker gewesen: O Gott, was hatten wir dieses blasse, lindgrün-beige-lilafarbene Land geliebt! Wir wären damals liebend gerne noch schnell, bevor dieser Staat unterging, DDR – Bürger geworden. Das sagten wir. Das fanden wir damals schick zu behaupten.
     
    Blick in die Berliner Runde.
    Es ging – du liebes Bisschen – natürlich wie immer auch um die alte Frage, ob da draußen, ums Eck, keine Autostunde entfernt, noch einmal ein ganz anderes Leben lag, das trotzdem machbar war und das angeschaut werden wollte.
    Es ging – nach zehn Jahren Berlin in den Nullerjahren – um die ebenso einfache wie dramatische Frage, ob man sich überhaupt noch irgendetwas Neues vorstellen und ansehen wollte. Oder ob man das besser bleiben ließ.
     
    »Das wird nicht ohne«, sagte mein Kumpel. Er hielt das Glas vor sein rechtes Auge und kniff das Auge dabei zusammen. »Ich meine, das kann richtig düster werden, öde, trostlos, scheiße. Es kann auch einfach kacklangweilig werden. Hast du das im Blick?«
    Ich sagte: »Ich freue mich darauf.«
    Ich freute mich auf den Proll. Der Proll, erklärte ich der Runde, der könne gar nicht böse, widerlich, asozial, beinhart und abstoßend genug sein. Behauptete ich. (Der Regisseur Christian Petzold hatte dem Reporter bei einem Tässchen Kaffee in einem Lokal in Kreuzberg in seiner mitreißend klugen und nüchternen Art erklärt, man habe schlichtweg davon auszugehen, dass praktisch jeder Jugendliche, jeder Mensch zwischen zwölf und achtundzwanzig Jahren im Osten Nazi sei. Der Nazi sei da einfach die allseits präsente Jugendkultur, so wie vor dreißig Jahren alle Hippies und vor zwanzig Jahren alle Punks waren. Und Toralf Staud, Autor des Fachbuchs Moderne Nazis, hatte die Regel gewusst, dass, je weiter man sich von Berlin entfernte und je dünner die Besiedelung wurde, der Nazi immer wahrscheinlicher werde. Der Nazi, so der Fachmann Staud, ließe sich im Osten schlichtwegnicht vermeiden.) Mein Proll, erklärte ich, dürfte ultrawiderlich und überhaupt alles Böse sein, aber bitte kein Nazi, denn Nazis – es täte mir leid –, die fände ich vor allem wahnsinnig langweilig.
     
    »Super«, sagte die Blonde.
    Sie lachte, schüttelte ihre Haare, strahlte. Sie sagte: »Ich glaube, dass wird echt eine super Geschichte. Aber … kannst du überhaupt boxen?«
    Ich sagte: »Ja.«
    Und ich merkte, dass ich gerade für die erste echte Überraschung des Abends gesorgt hatte.
     
    Ich betrachtete, so gut das möglich war, meinen Kumpel. In der Art, wie er beim Sprechen die Augen halb geschlossen hielt, im scharfen Zug seiner Nase, sogar im Schnitt seines Hemdkragens erkannte ich all das, was uns seit jeher selbstverständlich war und notwendig erschien, damit es auszuhalten war unter den Menschen: eine gründliche Bildung, Zartheit, Ansprechbarkeit des Herzens, am Ende nannte man das Zivilisation. Am Ende, das war wichtig, musste es immer die Möglichkeit geben, mit einem Gag all die Mühsal, Scheußlichkeiten und Unzulänglichkeiten der Welt von sich hinwegzunehmen.
    Ein guter Gag, da war ich ganz sicher, würde am Ende die Welt retten. Das sagte ich meinem Kumpel. Und wir freuten uns und lachten.
     
    Als wir die Mäntel anzogen, erklärte ich, dass ich da draußen natürlich auch ein bisschen was

Weitere Kostenlose Bücher