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Deutschboden

Deutschboden

Titel: Deutschboden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Uslar
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Schwedt blieb ich fünf Tage und fünf Nächte lang. Ich wollte es echt wissen.
     
    In der Altstadt: alles auffällig neu. Neues Kopfsteinpflaster; neue, nach dem historischen Vorbild von 1890 gefertigte Straßenlaternen; schöne neue Mülleimer.
    Da latschte ein Glatzkopf durch die Gasse, zog an der Linken einen Pfiffi, an der Rechten ein blondes Mädchen hinter sich her. Die Band Boykott würde am Wochenende ihre CD Blut in eurer Hand im Suboptimal vorstellen.
    Ich fuhr gleich wieder aus der Altstadt raus, vorbei am Schild, das Richtung Bundesgrenze zeigte, über Wiesen, in denen das Wasser stand, und zwei Flüsse, die beide die Oder sein konnten. Am Deich stieg ich aus und lief –Grüße an den wandernden Märchenreporter – weit oben in die wilden Winde und die für die Jahreszeit zu heiße und verrückt helle und gleißende Aprilsonne hinein.
     
    Das Land der Plattenbauten: weites Land unter weitem Himmel. Ich glaubte, die Erdkrümmung zwischen den Plattenbauten zu sehen.
    Die Plattenbauten waren rötlich, bläulich, gelblich, grau und beige. Die Straße zwischen den Bauten wirkte so breit wie eine Flugschneise. Längs der Straße standen Birken, auf dem Mittelstreifen der Straße wuchs ein silbrig glänzendes Kraut. Die Rasenflächen waren graubraun. Die renovierten Plattenbauten am Waldrand hatten bunte Balkone.
    Es gab wenig, dachte ich, das so widersinnig und gemein aussah wie ein renovierter und mit Geranienblumentöpfen verzierter Plattenbau, weil dem Plattenbau so das Einzige, was ihn je ausgezeichnet hatte, nämlich seine Trostlosigkeit, genommen war.
     
    Flackernde Fahnenreihen.
    Obi.
    Real.
    Dreißig Jahre Mediamarkt.
    Im Camp Hotel kostete eine Übernachtung inklusive Frühstück 22 Euro.
    Zur PCK Raffinerie bitte rechts einordnen. Viele Sackgassen. Man verfuhr sich komischerweise dauernd.
     
    Im Burger King im Oder-Center hieß die Frage wieder: Maxi oder Spar?
    Die Kingdeals kosteten 1,99 und 2,99 Euro. Auf dem zentralen Platz der Stadt, dem Platz der Befreiung, war der Polenmarkt aufgebaut. Und der Reporter las an diesem Tag zum ersten Mal den in den Kategorien Häme, Bosheit und sozialer Kälte noch mal eine ganz neue Dimension erreichenden Namen des Discount-Marktes »Mäc-Geiz«. Schwedter Poesie, als Leuchtschrift über dem Oder-Center angebracht, lautete: »Zum Glück gibt’s Qualität zum Discount Billigpreis: Kaufland«.
    Aber echt: zum Glück, ey. Da haben wir ja alle noch mal richtig Glück gehabt.
     
    Der Boxverein »UBV 1948 Schwedt« lag in einem gelb gestrichenen Würfel mit der Aufschrift »Boxsporthalle Günther Jähnke«. Adidas-Fahne, Deutschland-Fahne, Brandenburg-Fahne. Vor der Halle war ein astreiner schwarzer 5er-BMW geparkt. Vor der Glastür am Eingang, am großen Stehaschenbecher, trieben sich die Gestalten der Gegenwart herum: schmale Köpfe, die mit den seitlich wegrasierten Haaren, enge Jacken, weite Hosen, dicke Schuhe, Kapuzen über dem Kopf, Sporttasche über den Schultern.
    Die Jungs guckten. Die Jungs taten selbstverständlich so, als ob sie nicht guckten, während sie guckten. Es sah vollkommen normal und harmlos aus, und es wirkte gleichzeitig supergefährlich. Die Jungs waren gut im Rauchen, Nichtgucken und brandgefährlich Aussehen.
    Und nun geschah es, und ich erlebte die erste von vielen Spuckefaden-Theateraufführungen, auf die ich mich bei Antritt meiner Reise so gefreut hatte. Es war ein schmales Kerlchen mit einer unglücklich langen Nase, die weit aus dem kleinen Gesicht herausstand, und einem kleinen, fliehenden Kinn. Der Junge trug einen Anzug von Adidas, der nicht für Auftritte in Diskotheken, sondern zur Ausübung echter Sportarten gemacht war. Er blieb im Kreis seiner Kumpels stehen, trat aber innerhalb des Kreises zwei kurze Schritte zurück, nahm den Oberkörper nach vorne und ließ, wie es das Spuckefaden-Schauspiel verlangte, den Spucketropfen erst auf der Unterlippe auftauchen, den Tropfen einen Faden bilden und den Faden sich so lange dehnen, bis er riss und sein unteres Ende auf dem Boden aufkam. Der Spucker blieb dann so, den Kopf nach vorne gebeugt und Mund geöffnet, noch einen Moment lang stehen, als überlegte er, einen zweiten Faden fallen zu lassen.
    Es kam dann aber nichts mehr.
    Ich war begeistert.
    Ich hatte gleich eine derartig geile Angst.
     
    Trainer Bernd Bohley, eine Koryphäe unter den Boxtrainern Ost-Deutschlands, gut fünfzig Jahre alt, Schnauzbartträger, von zäher und austrainierter Figur (dieser Bohley hatte seine

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