Deutschboden
von Tomi Ungerers Liederbuch zu finden hoffte: Kirchturm, Gerichtslinde, Storchennest, die alte Mühle, Fuhrwagen auf Kopfsteinpflaster, Ruine mit weitem Ausblick auf die Felder, Frau, Arbeitskittel tragend, mit Kind an der Hand auf dem Weg zur Stadt hinaus, still dahinfließender Fluss.
Ach!
Ja. Die ganze romantische Scheiße.
Hey du, superschönes Germany, du.
Und in der Art, in der mein Kumpel seinen Arm um meine Schultern legte und mich nach draußen vors Lokal zog, merkte ich, dass ich sehr viel nicht wusste und sich der Plan, meine Reise, jederzeit als Missverständnis herausstellen konnte, als Irrtum, als furchtbarer Flop.
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2 Plattenbau-Quartett
Dann musste ich echt los.
Es wollte nicht. Es sperrte sich alles. Ich hatte so was von null Bock.
Normal.
Ich fuhr, um warm zu werden, gleich mal ein paar Hundert Kilometer am Stück durch Deutschland.
Fahren. Fahren. Fahren auf der Autobahn. Fahren mit dem Fiat 500 (eierschalenfarben), den die Firma Fiat mir für die Dauer meiner Reisen zur Verfügung gestellt hatte. Ich hatte der PR – Firma, die den Deal eingefädelt hatte, versprochen, dass ich das Auto in meinem Text, der noch zu schreibenden Reportage, lobend erwähnen würde. (Lobende Erwähnung wie folgt: Das ist ein gutes Auto, echt. Fährt sich voll gut, vor allem und komischerweise besonders auf der Autobahn. Kann ich voll empfehlen. Echt. Toll.)
Von Berlin kommend fuhr ich sternförmig in die vier Himmelsrichtungen hinein, die Baedeker-Autokarte Deutschland Osten und eine Liste der Amateurboxclubs in den östlichen Bundesländern auf dem Beifahrersitz. Ich fuhr und verschätzte mich mit den Entfernungen.
Fürstenwalde (Ost).
Müllrose (Ost).
Luckenwalde, Jüterbog (Süd).
Schwarzheide, Senftenberg und Spremberg (Süd-Osten).
Rathenow (West). Schönow (Nord).
Teterow (Nord-Nord-Ost).
Krakow am See (Nord-Nord-Ost).
Wittenberg, Perleberg, Ludwigslust (Nord-West).
Prenzlau (Nord-Ost).
Neubrandenburg (Nord).
Altentreptow, Demmin (Nord-Nord).
Ein Problem war sicher auch, dass man im Auto, hinterm Lenkrad sitzend, immer nicht so richtig viel sieht.
So vergingen Wochen.
Der Hauswart hinter dem Eisenzaun in Luckenwalde.
Die Paintball-Halle in Schönow.
Die Stadtbefestigungsanlage in Altentreptow.
Das Ruderboot in Krakow.
Das Union-Lichtspielhaus in Prenzlau.
Achtung!
Hier kommt die rasende Reporter-Sau mit dem gesponserten Fiat 500!
Die Ausgedachtheit und Abgehobenheit des Projekts, eine möglichst beschissene Kleinstadt mit intaktem Boxclub in erreichbarer Entfernung von Berlin zu finden, war maximal kräfteraubend, verwirrend, zermürbend.
Was war im Einzelnen zu meiner Boxfertigkeit zu sagen? Ich hatte zehn Jahre lang in einem Kneipenverein mit Schriftstellern, Journalisten, Grafikern und Fotografen trainiert. Ich war ein ausdauernder Seilspringer. Meine erste Führhand (Linke) war okay, aber schon die zweite kam nicht schnell genug. Ich war insgesamt nicht schnell. Meine Muskulatur in den Schultern war zu ausgeprägt, um eine schnelle Gerade zu schlagen, und in den Beinen nicht ausgeprägt genug, um drei Minuten Sparring ohne Wadenkrämpfe durchzustehen. Über eine Schritttechnik verfügte ich kaum. Immerhin, ich hielt die Ellbogen nah am Körper, und bei Partnerübungen konnte ich die Deckung so oben halten, dass ich ohne Blessuren davonkam. Am Sandsack konnte ich einige Kombinationen aus Geraden, Seitwärts- und Aufwärtshaken so anbringen, dass es für den laienhaften Zuschauer hübsch anzusehen war. Im Vergleich zu meinem Können war meine Erfahrung groß: Ich hatte mich oft erfolgreich aus der Affäre gezogen. Ichwusste, dass es im Ring vor allem auf zwei Dinge ankam: einen Mundschutz zu tragen und das Atmen nicht zu vergessen. Ich wusste – das war meine Stärke –, dass ich kein Boxer war.
Nach Eisenhüttenstadt fuhr ich nicht. Auf einer halbseitigen Fotoreportage der Bild – Zeitung hatte die Stadt so sagenhaft wüst, tot, leer, verseucht und von giftigen Winden durchweht ausgesehen: was für ein Aufschrei, was für eine Anklage (wie die Brecht-Inszenierung eines Brecht-Stücks aus den Fünfzigerjahren, bei der Brecht selber einen Lachkrampf bekommen hätte).
Dann kam ich, in der dritten Woche, nach Schwedt (35000 Einwohner, am deutsch-polnischen Grenzfluss Oder gelegen), der Stadt, die der stets zu Fuß reisende Reporter Wolfgang Büscher einmal als die amerikanischste Stadt des deutschen Ostens bezeichnet hatte. In der Oder-Stadt
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