Deutschboden
eine lange Zeit. Vielleicht stand ich deshalb auch nur drei Minuten so da.
Ich lief nun die Straße, die von der Hauptstraße abging, hinunter und fand – kompletter Zufall – gleich meinen Boxclub.
Der »Boxring Oberhavel e. V.« war Teil des Sportstudios »Fitness Factory«, das neben Boxen die Sportarten Tai-Chi, Kung-Fu, Aero Biking und Step Aerobic anbot. In einem Glaskasten hingen die Trainingszeiten: »Di, Do, Fr, 16:30 Uhr bis 18 Uhr. Trainer Maik Brunner«. Drei Termine pro Woche waren mehr, als Kleinstadt-Boxclubs sonst auf die Reihe kriegten, ein gutes Zeichen also, und schon beim Lesen des Trainernamens Maik Brunner kam in mir eine Vorfreude und komische Panik hoch, die alteAngst, die für den Sport normal begabte Menschen vor Sporthallen haben, Angst vor dem Wettbewerb, vor den Umkleidekabinen, vor den Geräten, Angst, die falsche Ausrüstung dabeizuhaben, und Angst vor Trainer Maik Brunner, der seine Befehle schreien würde, denn Boxtrainer schrien ihre Befehle alle.
Der Club lag in einem zu einem Einkaufsgelände umfunktionierten ehemaligen Fabrikgelände. Es gab eine Fahrschule, ein Sonnenstudio, das italienische Restaurant »Ciao Ciao« und viel Platz zum Parken, in einem Nebenhof lagen der Billig-Kleidermarkt Kik und der Ein-Euro-Discounter Tedi. Das E von Tedi war ein Euro-Zeichen.
Ich lief mitten auf der Straße. Auf der Straße brannte nur eine Laterne.
Graue, dunkelbraune und sandfarbene Häuser, fast alle einstöckig. Die Häuser wirkten besonders niedrig, so niedrig, also wären sie nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten gebaut worden – wirklich so, als hätten sich die Häuser in die Erde hineingewühlt.
Man hätte in Regenrinnen hineinfassen können.
Fast alle Fenster waren mit Rollläden verschlossen. Schulterhohe Zäune aus Metall, auf einem war – so groß hatte ich das noch nie gesehen – ein etwa fünfzig mal fünfzig Zentimeter großes Profilbild eines Schäferhundekopfes angebracht: »Warnung vor dem Hunde«. Am nächsten Tor hing ein Schild mit der Aufschrift: »Vorsicht, bissige Hunde«. In einem Fenster war zwischen den Sichtschutz-vorhängen und den Scheiben eine Ausstellung merkwürdiger Ziergegenstände aufgebaut: Strohsterne, ein Körbchen mit Papierblumen, ein Becher mit Spielwürfeln, eine Porzellangiraffe, ein Pitbull aus Porzellan.
Zurück am Auto pausierte ich erneut.
Ich hatte starke Zentrum-Gefühle.
Dann sah ich, dass in der abfallenden Richtung der Straße eine Brücke kam und das Zentrum der Stadt wohl erst dahinter begann.
Die Brücke war eine Zugbrücke, für Fußgänger und Fahrradfahrer passierbar, für den Autoverkehr gesperrt. Die Firma Siemens hatte die Brücke im Jahr 1992 neu instand gesetzt. Auf einem am Metall angebrachten Schild erfuhr ich: »Probstbrücke, Wahrzeichen der Stadt Oberhavel. Von alters her Übergang von der Stadt über die Havel und den Damm ins Dorf Probst.«
Fluss: immer gut.
Unter der Zugbrücke floss die Havel, zur einen Seite ins Grüne, in eine parkartige Landschaft hinein, die Bäume und Sträuche hingen ins Wasser, zur anderen Seite in ein hafenartiges Becken mit Schiffsanlegestellen und Schleuse. Man sah: ein Wohlstandsgefälle. Hinter der Brücke ging der wohlhabendere Teil der Stadt los.
Und ich lief in das schweigende Einkaufssträßchen hinein.
Hinter der Brücke stand das immer wieder rührendste Schild der Welt: Spielstraße. Mit weißem Strich auf blauem Grund war hier das Abbild einer glücklichen deutschen Wohnwelt abgebildet. Haus mit spitzem Dach, Vater und Sohn spielten Fußball, ein Auto fuhr, schön langsam. Ich sah ein Geschäft, das ich gleich beim ersten Anblick für das Geschäft der Zukunft hielt: Es war vollkommen unklar, was es hier zu kaufen gab. Es stand auch nichts dran. Im Ladenlokal brannte kein Licht.
Ich ging ganz nah ran an die Schaufenster und spähte durch das Glas:
Der linke Teil des Schaufensters war mit weißer Spitze verhangen. Zwischen der Spitze klebte ein Stück Pappkarton mit der Aufschrift: »Wohnung zu vermieten«, ein weiterer Pappendeckel mit der Aufschrift »Frische Eier«. Im rechten Teil des Ladens waren etwa fünfzig Plastikkörbe in einer Billy-Regalwand von Ikea aufgestellt.
Es gab: Haargummis (zehn Stück für 15 Cent), hundert kleine Plastiklöffel (50 Cent), Salatbestecke (70 Cent), Steakmesser (99 Cent), Hundeleinen (ab 3,99 Euro), Hochzeitskarten (25 Cent). Fünf Kilo Nägel kosteten 3,50 Euro, ein Seifenablageset (zwei
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