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Deutschboden

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Titel: Deutschboden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Uslar
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verboten« standen etwa zehn junge Männer. Kappen. Ohrringe. Blaumänner. Ein Ed-Hardy-T-Shirt. Einer mit einem Edeka- Polohemd. Bierdosen. Acht der zehn Jungs rauchten.
     
    An der Tankstelle stand ich mit laufendem Motor, ich rief Raoul an und entschuldigte mich: Werde heute leider nichts mehr. Ich könne unmöglich zum verabredeten Konzert im Proberaum erscheinen, es täte mir leid: Unvorhergesehenes in Berlin. Beim nächsten Mal sei ich aber sicher dabei. Dann fuhr ich ab, wobei ich darauf achtete, dass der Fiat 500 eine schöne Kurve quer über die Tankstelle zog, und ließ mich gleich mehrere Tage lang, mindestens aber zwei Tage länger, als ich geplant hatte, nicht in der Kleinstadt blicken.

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9 Regionalexpress
    Noch einmal ganz von vorne anfangen: also den Zug nehmen. Wer wirklich weit wegkommen wollte von zu Hause, der musste den Regionalexpress nehmen. Das wusste ja auch eigentlich jeder. Zugfahren: der letzte romantische, einen Rausch bewirkende, unmittelbar süchtig machende Zustand unserer Zeit, an dem täglich Millionen ganz selbstverständlich teilnahmen – das, was Wanderungen übers Land früher einmal gewesen sein mochten. Schon nach zehn Minuten Zugfahrt war der Reporter von allem, was in den Tagen zuvor gewesen war, etwa dreitausend Kilometer weit entfernt.
    Gleis fünf am Berliner Hauptbahnhof: Hier fuhren die Züge Richtung Norden, nach Wittenberge, Stralsund, Templin, Wandlitz, Eberswalde. Und hier fing, noch mitten in der Stadt, noch auf dem Bahnsteig, schon die Provinz an, und mit den Minuten, die man auf dem Bahnsteig wartete und auf und ab ging, fuhr man schon mitten in die Provinz hinein. Die Provinz: Kappen, Dreiviertelhosen, Runen-Tätowierungen.
    Der Doppeldeckerzug.
    Die Hin- und Rückfahrt kostete 9,40 Euro.
     
    Auch hier dieselbe Überraschung wie beim Autofahren: wie schnell man raus war aus Berlin. Es gab kaum Vororte. Es wurde gleich flach, grün und leer. 18 Minuten nach Abfahrt vom Hauptbahnhof war man im wogenden Feldermeer am Bahnhof Schönfließ angekommen.
    Es war keine schöne, höchstens eine mittelschöne Landschaft: eine Fläche, die ohne jede Urkraft, jeden Überschwang, jede Herrlichkeit auskam.
    Man konnte auch sagen: Es war weder eine schöne noch eine hässliche Landschaft – insofern also doch eine hässliche Landschaft, weil Landschaften in der Vorstellung des Betrachters doch stets schön zu sein hatten.
    Kratzputz.
    Sandböden.
    Die dünnen Bäume Ostdeutschlands, Kiefern, Birken,
    Lärchen.
    Grandios verlassene Western-Bahnhöfe, in denen das Bahnhofsrestaurant »Zum schmalen Taler« hieß. Man hätte, mit einer gemütlichen Traurigkeit im Bauch, jederzeit losflennen können, eben weil die Bahnhöfe der Dörfer und Kleinstädte – ähnlich wie Ziegelfabriken, Pferdedroschken oder steife schwarze Zylinderhüte – aus einer abgelaufenen Zeit, dem 19. Jahrhundert, stammten.
     
    Schade war natürlich, dass im Zug von heute weder ein Fenster geöffnet werden konnte noch geraucht werden durfte, weshalb es in diesem Zug, was nicht anders möglich war, bestialisch stank: nicht einfach nach Schweiß, sondern nach wochenlang nicht gewaschenem Menschen (es war wahrscheinlich nur ein Mensch in diesem Zug, der sich nicht wusch, aber der reichte).
     
    Ich hatte – normal – natürlich gleich wieder einen richtig schönen Schiss dieses Mal vor den Leuten, die da mit mir im Regionalexpress (RE) saßen.
    Der RE – Einheimische gab sich in seinen Blicken durch eine schöne Stumpfsinnigkeit, Bosheit, Zugenageltheit zu erkennen, der RE – Fremde dadurch, dass seine Blicke hinter den Zugfensterscheiben etwas finden wollten, was neu, interessant oder sonst wie betrachtenswert war. Gleichzeitig provozierten die Blicke des RE – Fremden den RE – Einheimischen, weil der Fremde es wagte, diese Zugfahrt anders als der Einheimische anzugehen, also nicht stumpf, böse, zugenagelt, sondern interessiert. Schwierig. Es war schwer, den Proll zu studieren, weil der Proll begreiflicherweise ganz schön wütend werden konnte, wenn der Reporter ihn betrachtete. Guckte der Proll den Reporter an, so sagten seine Blicke natürlich immer: Warum guckst du? Hast du irgendein Problem?
     
    Auf den Sitzbänken neben mir hatten sich zwei wunderbare Mädchen hingelagert und dabei, noch im Hinlagern und Platznehmen, angefangen, möglichst viele Gegenstände auszupacken und um sich herum auszubreiten und zu verteilen: Taschen, kleinere Taschen, Schminkbeutel, Zigarettenpackungen, goldene

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