Deutschboden
nicht erst seit zwanzig Jahren nicht gut ging: Das Elend, die Kargheit, Ausgezehrtheit und Armut waren viele Hundert Jahre alt. Diesem Land, das sah man im Vorbeifahren, war es seit seiner Erfindung, den Zeiten Friedrichs des Großen, nie besonders gut gegangen.
Ich bekam ein Provinz-Grusel-Frieren, und mir fiel ein, dass fast alle Bedienungen, Türsteher, sonstigen Fachkräfte aus den schicken Clubs und Restaurants in Berlin genau aus diesen Orten, der deutschen Provinz, kamen, und wie oft man von diesen Leuten gehört hatte, wie froh, regelrecht erlöst sie waren, der Enge ihrer Heimatstädte und Heimatdörfer entkommen zu sein und nun in der Großstadt leben zu dürfen. Logisch, der normale Mensch wollte weg von hier, raus aus der Kleinstadt, nichts wie in die große Stadt.
Nächster Bahnhof: Oberhavel (Mark).
Irre.
Ich, Reporter, der auch im Zug seinen Hut nicht abnahm, wollte genau hier sein, in diesem Provinzhöllennest: Oberhavel, Hardrockhausen.
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10 Frühe Biere
Ich platzte, um mit dem Ort warm zu werden, gleich mal bei Schröder hinein. Nachmittagsbetrieb. Kaum Gäste. Der Fernseher aus. Das Radio an. Das Mittagsgericht war heute Gemüsesuppe mit Wursteinlage, die Portion zu 2,10 Euro. Es roch überraschend unmuffig. Ein alter Mann und ein Alkoholiker, der Alte mit Tirolerhut, der Alkoholiker mit rot gesoffenem Gesicht: Bier und Schnäpse auf dem Tisch. Kegel-Kalle am Tresen. Ein Handwerker, der im Stehen eine Currywurst aß.
Heiko begrüßte mich, obwohl es gerade das zweite Mal war, dass ich sein Lokal betrat, wie einen alten Freund:
»Moritz … schöne Molle?«
Ich erklärte Heiko, dass es um halb vier nachmittags für mich noch ein bisschen zu früh für ein Bierchen sei, leider, ich sei ja Superreporter und müsse immer hellwach sein. Das fand Heiko ziemlich lustig.
Heiko: Mann mit den Balu-der-Bär-Augen. Ich musste mir eingestehen, dass diese routinierte Heiko-Herzlichkeit bei mir sehr gut ankam: eben wie eine Kumpel-Umarmung. Er stellte mir einen Teller Gemüsesuppe hin und, als ich halb fertig damit war, einen Becher Kaffee und zwei Hackepeter-Brötchenhälften. Ich grinste dumm, weil ich so zufrieden war. Ich dachte: Alte Scheiße, ist das gemütlich hier. Ich plumpste runter und hatte für gute zehn Minuten keine Frage. Es war das erste Mal in der Kleinstadt, dass der Reporter einfach gute Laune hatte.
Gespräche zwischen dem Alten mit Tirolerhut und dem Alkoholiker. Der Alte mit Tirolerhut hieß Lothar und sprach mit badischem Dialekt. Der andere, Alkoholiker, wollte dem Badenser begreiflich machen, wie viele Zigaretten er pro Woche rauchte. Er schaffte es nicht. Er bekam es einfach nicht ausgespuckt. Er brauchte vier, fünf Anläufe, um die Anzahl der Zigaretten, die er pro Woche rauchte, in einem verständlichen Satz der deutschen Sprache auszudrücken (es war nicht sonderlich viel, er rauchte eine Packung pro Woche).
Alkoholiker: »Kopfschmerzen habe ich heute. Weiß gar nicht, von was. Vielleicht vom Fahrradfahren ohne Mütze.«
Badenser: »Kopfschmerzen kenne ich nicht. Die hatte ich noch nie in meinem Leben.«
Alkoholiker: »Hast du zugelegt? Das erste Mal, als ich dich gesehen habe, hattest du noch weniger drauf. Also, so empfinde ich das jedenfalls.«
Badenser: »Du machst dir zu viel Gedanken.«
Alkoholiker: »Was trinkst du denn, wenn du zu Hause bist?«
Badenser: »Fürstenberg. Eins der besten Biere der Welt. Gibt’s auch im Flugzeug.«
Alkoholiker zu Heiko, er hielt ein Kümmerling-Fläschchen hoch: »Wir nehmen noch zwei.«
Kegel-Kalle wackelte da am Tresen herum. Heiko war gerade ganz woanders. Es musste niemand hinter dem Tresen stehen, damit Kalle diesem Niemand seinen Kram erzählte. Kalle kam faselnd von nirgendwo und ging faselnd nach irgendwo: faseling his way through Faselland.
Kegel-Kalle erzählte: »Ditt ist normalerweise alles unnormal. Völlig unlogisch. Sage ich mal.«
Kalle lispelte stark. Er suchte neuen Halt an der Theke. Er hielt sich mit ausgestreckten Armen an der Theke fest, wobei sein Kopf zwischen den Schultern hin und her baumelte. Er riss den Kopf nach oben, knickte in den Armen ein, fiel mit der Brust gegen die Theke und bekam dabei einen Laberflash nach allen Regeln der Kunst:
»Hier bleibt nichts, wie es ist. Alles verändert sich jeden Tag. Verstehst du ditt?«
Ich bot mich als Zuhörer an.
Ich sagte: »Nö. Verstehe ich auch nicht.«
Ich sah ihn an, damit er weitererzählte.
Kalle: »Ditt jibt’s do
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