Deutschboden
nich’! Ich meine: Jeden Tag machthier ein Nagelstudio auf. Wenn ich mal drei Tage nicht da bin, dann ist aus dem Gemüseladen garantiert ein Import-Export geworden. Oder ein Nagelstudio.«
Kalle malte mit der Hand, die gerade nicht das Bierglas hielt, einen großen Bogen durchs Lokal. »Wir haben hier neun Nagelstudios in Oberhavel, und da sind die mobilen Nagelstudios noch gar nicht mitgerechnet. Ich meine …«, Kalle grinste, jetzt musste ein todsicherer Gag kommen. Er trötete los: »Wenn ditt wenigstens sone Nagelstudios wären …« Und er ließ, während er sich am Tresen festhielt, seine Hüften hin- und herschwingen, als nähme er eine Frau von hinten. Kalle suchte sich einen Bierhocker. Bisschen ausruhen nach diesem Erregungs-Anfall. Es war ein großer, ein unvergesslicher Auftritt des Kegel-Kalle gewesen.
Heiko erzählte, während er am Pilshahn stand, mal dieses und jenes. Ein Geschirrtuch lag ihm auf der linken Schulter. Pilszapfer-Lyrik: dass es ihm gut ginge, weil es ihm immer gut ginge; dass es eine harte Woche für Oberhavel gewesen sei, weil gleich drei Oberhaveler Bürger – ein älteres Ehepaar, ein alleinstehender älterer Mann – sich erhängt (Heiko nannte es: sich uffjebaumelt) hätten.
Heiko erzählte gerne, und er hatte gerade Zeit zu erzählen, weil in der Kneipe nicht viel los war. Nachmittags, dachte der Reporter, war Plauderstunde, nachmittags war in der Kneipe die ideale Zeit zum Erzählen, weil sich abends zu viele Männer am Tresen drängten. Gut, dachte der Reporter, war es, wenn Heiko einfach erzählte, was er erzählen wollte. Was Heiko erzählte, war so oder so spannend. Heiko erzählte von früher. Heiko erzählte von der Wiedervereinigung. Heiko erzählte von der DDR:
»Für unsere Generation, Jahrgänge neunundsechzig, siebzig, kam die Wende doch genau richtig. Wir haben in der DDR noch eine gesunde Schulbildung genossen und unsere Ausbildung gemacht: dann Mauerfall. Und dann ging es los. Für meinen Vater zum Beispiel kam die Wende dreißig Jahre zu spät.«
Er erzählte, dass sein Vater Hansi und er sich bei der Arbeit abwechselten. Eine Woche habe er die Spätschicht, eine Woche sein Vater, am Freitagabend dann sei so viel los, dass beide ranmüssten. Er käme auf einen schönen 15- bis 16-Stunden-Tag.
Und weiter im Erinnerungs-Text: früher einmal. Ganz früher einmal.
»Früher hat die Familie noch gezählt. Erst die Familie, dann die Arbeit. Es gab einen anderen Zusammenhalt, ein Gemeinschaftsgefühl. Dass man sich wegen irgendeinem Mist verklagt hat, das hätte es früher nicht gegeben. Die Schulausbildung war besser. Früher konnten die Leute nach Tschechien, Bulgarien, Rumänien, Ungarn reisen, wenn sie in der Partei waren, auch nach Österreich. Und heute? Heute kann jeder nach Amerika, und es kommt da doch niemand hin, weil das Geld nicht reicht. Es war nicht alles besser früher, klar, den perfekten Staat, den gibt’s ja nicht. Mein Vater hat die Hölle durchgemacht, weil er ein Privatunternehmen hatte.«
Heiko legte eine Pause ein, guckte, stellte sicher, dass seine Erzählung ankam. Weiter im Text:
»Ich habe Schlosser gelernt. Wir waren eine Truppe von fünfzehn Handwerkern. Außer dem Vorarbeiter und dem Polier hatte jeder denselben Lohn. Und keiner war dem anderen Konkurrent. Die Atmosphäre untereinander warbesser. Du bist zusammen mit dem Bus zur Arbeit gefahren. Du hast nach der Arbeit zusammen ein Bier getrunken – komm, noch auf zwei Bier und zwei Schnäpse rein in die Kneipe. Am Wochenende, da sind wir schön mit dem Moped zur Ostsee gefahren und haben die Weiber durchgebumst.«
Feixender, augenzwinkernder Heiko. Er, Erzähler, kam dem Reporter nun ganz nahe: »Weißt du, Moritz. Das mit dem Gemeinschaftsgefühl, das kriegst du aus uns Ossis auch nicht mehr heraus. Das bleibt. Das steckt bei uns in den Genen. Ich sage immer …« Er nahm das Geschirrtuch und wischte damit irgendwo entlang. »Ich sage immer: Setz acht Wessis an einen Tisch, da zahlt jeder seine eigene Rechnung. Setz acht Ossis an einen Tisch, da zahlt einer alles, und beim nächsten Mal ist der Nächste dran.«
Ich hörte Heiko zu. Und: Ich ahnte, dass Heiko recht hatte. Ich konnte mir die beiden Tische vorstellen, den im Westen, den im Osten, und ich sah förmlich vor mir, wie die Männer am West-Tisch nach ihren Portemonnaies griffen, die in ihren Gesäßtaschen steckten, während am Ost-Tisch ein Mann die Hand hob und rief:
Komm, ich mach das heute. Und
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