Deutschboden
ich mir als Wahl-Oberhaveler bitte das Folgende merken: Es heiße nicht »zu Aral«, sondern »nach Aral«, so wie es nicht »zu Kaiser’s«, sondern »nach Kaiser’s« und demzufolge nicht »zu Schröder«, sondern »nach Schröder« heiße. Der auf gut Oberhavelerisch korrekt gesprochene Satz heiße also: »Komm, wir fahren nach Aral.« Oder: »Lass mal nach Kaiser’s gucken fahren.« Oder: »Komm, wir gehen noch auf ’ne schöne Molle nach Schröder.« Das seien Falschheiten, so Raoul, die im vollen Bewusstsein und nicht ohne Stolz eingesetzt würden.
Auch das könne ich mir gleich merken: Wenn ich mal – besonders nachts – irgendwo hinwolle, dann bräuchte ich mich nicht großartig aufs Fahrrad zu schwingen. Manstelle sich an die Straße. Nach fünf, maximal zehn Minuten halte einer an und frage, wo man hinwolle: »Fahr mich mal nach Kaiser’s.«
Er stand auf, machte uns noch zwei von den Cappuccini aus der Tüte. Wir waren, auf Raouls Sofa sitzend, von Jappy.de zu Kaiser’s, Aral und den Badeseen von Oberhavel gekommen, nun guckten wir wieder beide in den Computer. Raoul wollte, mit dem Blick auf den Bildschirm, von den Möglichkeiten des Internets schwärmen.
Internet?
Erst vor einem halben Jahr habe er den Zugang bekommen, aber dann sei es bei ihm innerhalb weniger Wochen von null auf hundert gegangen: Er sei ja nicht nur bei Jappy Mitglied, sondern auch bei MySpace und StudiVZ, und er habe, um gut drauf zu kommen, je vier, fünf und mehr Identitäten. Allein bei Jappy, so erklärte Raoul, sei er ein Schwuler, eine Hausfrau mit dicken Titten, eine süße Maus mit kleinen Titten, eine Lesbe, ein Raver, ein Hip-Hopper. Raoul zufrieden: »Ich bin alles.« Bei MySpace, so sah der Reporter später im Internet, war Raoul unter den Profilnamen The Lost One, Randgruppenwitzemacher und Rusty Nippel angemeldet.
Raoul führte dem Reporter die Seiten vor, die er für seine Band 5 Teeth Less auf den Netzwerk-Seiten unterhielt. Er, Raoul, kenne sich selbstverständlich blendend aus im weltweiten Netz, wisse alles, finde alles, könne noch für den kaputtesten Wunsch, die abgefahrenste Laune, das krankeste Bedürfnis in Minutenschnelle die passende Adresse aufstellen. Wenn irgendeiner in der Kleinstadt ein spezielles Programm oder einen Film haben wolle, man käme zu ihm in die Wohnung. Seine 500-GB – Platte sei zur Hälfte voll mit Filmen. Dasselbe gelte natürlich für Serien: Family Guy und My Name Is Earl , so hießen die Serien, die natürlich allesamt politisch extrem unkorrekt seien, also gegen Frauen, Schwule, Schwarze, Moslems, Juden, Gastarbeiter, Vegetarier und jede nur erdenkliche Minderheit. Er, so Raoul, sei selbstredend geradezu krankhaft süchtig nach amerikanischen Serien, oft schaue er zehn, zwölf Folgen am Stück, der ganze Computer sei voll mit dem Shit. Die Seite, die er als Kenner, der maximale Qualität verlange, empfehlen könne, heiße übrigens nzb.to.
Und Raoul erklärte weiter, dass die Kleinstadt, gerade in den dunklen Monaten, also von Oktober bis April, noch so langweilig sein könnte – ihm gleichgültig: Bei ihm oben in der Wohnung sei immer die Hölle los.
Er, Raoul, werde von einem geradezu bestialischen Hunger nach Neuigkeiten geplagt, nach geilen, neuen Stoffen und krasser, neuer Unterhaltung. Und wie er so dasaß auf seiner Couch – Kaffee, Zigarette, Kappe, heftig gestikulierend – glaubte man ihm gerne: »Ich kenne Leute, die schalten bei Nachrichten um. Das verstehe ich nicht.«
Das, so Raoul, sei ja das Gute am Arbeitslosenleben: Er habe Zeit für den ganzen Kulturscheiß, die Songs, Filme, Serien, Spiele. Und die Zeit, sich den ganzen Scheiß auch wirklich anzuschauen, da kenne er nichts, die Zeit nehme er sich auch. Während jetzt, zur Sommerzeit, die Lichter um ihn herum gegen elf Uhr abends ausgingen, gehe es bei ihm, hier oben in der Dachwohnung, erst richtig los: Dann sitze er noch stundenlang vor seinen Maschinen, am besten lief alles gleichzeitig, Fernseher, Anlage, Spielkonsole, Computer, und während die Maschinen brummten und surrten, pennte er, Raoul, auch meistens gleich auf der Couch ein. Ganz selten, dass er vor vier Uhr früh die Augen zumache.
Ich betrachtete den Punk mit der Kappe, der so mitreißend vom Nachts-allein-zu-Hause-bleiben schwärmen konnte: Dieser Raoul litt an einer Welt-Teilnehmungs-Lust, die, so schön und schmerzhaft, wie sie ausgelebt wurde, natürlich auch eine Welt-Teilnehmungs-Sucht war. Ob es nachts, wenn der
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