Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
lange auf sich warten. Den Romantikern in Jena galten Fleiß und Betriebsamkeit als Inbegriff des Philisterhaften und folglich verachtenswert: «Nichts ist es, dieses leere, unruhige Treiben als eine nordische Unart und wirkt auch nichts als Langeweile, fremde und eigne. Der Fleiß und der Nutzen sind die Todesengel mit dem feurigen Schwert, welche dem Menschen die Rückkehr ins Paradies verwehren», schreibt Friedrich Schlegel in seinem Roman Lucinde . Seiner Geliebten singt er stattdessen einen Hymnus auf den Müßiggang. «O Müßiggang, Müßiggang! du bist die Lebensluft der Unschuld und der Begeisterung; dich atmen die Seligen, und selig ist wer dich hat und hegt, du heiliges Kleinod! einziges Fragment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradiese blieb.»
Aber will nicht auch das Nichtstun gelernt sein? Nach Meinung Schlegels sehr wohl: «In der Tat sollte man das Studium des Müßiggangs nicht so sträflich vernachlässigen, sondern es zur Kunst und Wissenschaft, ja zur Religion bilden! Um alles in Eins zu fassen: je göttlicher ein Mensch oder ein Werk des Menschen ist, je ähnlicher werden sie der Pflanze; diese ist unter allen Formen der Natur die sittlichste, und die schönste. Und also wäre ja das höchste vollendetste Leben nichts als ein reines Vegetieren.»
Der Müßiggang als eine Wissenschaft und eine Religion? Das hört sich fast schon wieder nach Arbeit an – oder schwingt da auch eine Spur romantischer Ironie mit? Wie auch immer: Seit jenen Zeiten wird die Debatte über das Wohl und Wehe der Arbeit, die Vorzüge des Fleißes und des Müßiggangs mit Hitze und Eifer geführt und wechselweise der Fleiß oder die Faulheit zur Tugend erklärt. Paul Lafargue – Karl Marx’ ungeliebter Schwiegersohn und wie auch jener meist in Geldnöten – forderte im Jahr 1883 das Recht auf Faulheit . Freiheit und Arbeit, das seien zwei Dinge, die niemals zueinanderfänden. Das vielgepriesene «Recht auf Arbeit» stelle nichts weiter als ein «Recht auf Elend» dar. Drei Stunden Arbeit pro Tag, das hielt Lafargue für das rechte menschliche Maß, mehr sollte gesetzlich verboten sein. Hat nicht auch der Herrgott selbst nur «kümmerliche sechs Tage» gearbeitet, und seitdem gar nicht mehr? «O Faulheit», ruft Lafargue sie beim Namen, «erbarme Du Dich des unendlichen Elends! O Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, sei Du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit!» Das Gros der Sozialdemokraten freilich wollte nicht folgen, doch in jüngerer Zeit wurde Lafargues Manifest wiederentdeckt. Einige derer, die für das «bedingungslose Grundeinkommen» werben, berufen sich heute auf Lafargue.
Auf der anderen Seite ist die Stimme derer, die zur Tugend anhaltenden Fleißes ermahnen, nicht verstummt. Vor kurzem machte ein deutscher Minister mit den Worten auf sich aufmerksam: «Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein. An einem solchen Denken kann Deutschland scheitern.» Es wollten dem Minister nicht viele beispringen, obwohl doch die Deutschen unter den verschiedenen Völkern innerhalb und außerhalb Europas von jeher als besonders fleißig gelten. Auch von Regenten und Ministern wird die Tugend des Fleißes im Allgemeinen erwartet. Es gibt aber in der deutschen Geschichte auch Herrscher, die sich den Beinamen «der Faule» erworben haben, wie der Wittelsbacher Herzog Otto, seines Zeichens Markgraf und Kurfürst von Brandenburg. Für 200.000 Goldgulden und 3000 Schock böhmischer Groschen verscherbelte er im 14. Jahrhundert Berlin und die Mark Brandenburg an den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs. Danach zog sich der 28-jährige Otto mitsamt den erhaltenen Gulden und Groschen und einer Müllerin auf sein Schloss Wolfstein an der Isar zurück und widmete sich fortan sinnlichen Genüssen. Berlin wäre wohl nie in den Besitz der Hohenzollern gelangt und heute ein bayerisches Provinznest, wäre da nicht Otto der Faule gewesen.
Bisweilen sieht sich der Fleißige der Kritik derer ausgesetzt, die seiner Tugend nicht nacheifern wollen. Er gerät dann schnell in den Ruf, ein Streber zu sein. Erst recht, wenn er sich mit missionarischem Eifer daranmacht, seine Freunde und Nachbarn zur Tugend zu bekehren. Im Jahr 1916, als der Erste Weltkrieg wütete und die Menschen in Freund und Feind schied, hielt der Soziologe Max Scheler einen Vortrag, in dem er den Ursachen des Deutschenhasses nachging. Durch den Aufschwung, den die Wirtschaft des Deutschen
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