Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Reiches erfahren habe, so seine These, sähen die Nachbarnationen ihr müßiges Leben gefährdet: «Es war für unsere Östlichen Nachbarn mehr Träumen, Sinnen, Fühlen, Beten und stilles Sichbeugen unter das Joch des Schicksals, aber auch Schnapstrinken, durch das Leben romantisch schlendern, gesetz- und ordnungsloses derbes Genießen … Es war für die Engländer nach alter sieggewohnter Art leicht und in der Art alter vornehmer Kaufherrn kaufen und verkaufen, stolz auf die alt bewährte Warenform ohne Anpassung an den Kundenbedarf des Weltmarktes … es war aber auch das Leben genießen in Sport, Wette, Spiel, Landleben, Reisen, Freitag abends schon die Wochenarbeit abzuschließen und auf den Sportplatz zu fahren … Und dasselbe Paradies hieß für Frankreich: steigender Finanzreichtum bei wenig Kindern, Rentnerdasein nach 20- bis 30-jähriger Arbeit, großes Kolonialreich, Zeit und edle Muße zu Luxus, Geist, Form, empfindungsreichen Abenteuern mit den schönen Frauen …»
Doch kein Paradies und kein Schlendrian, so Scheler, kann hienieden von Dauer sein: «Da erschien an ihrer aller Horizont das Bild eines neuen sonderbaren Erzengels, das Gesicht … so hart und ehern als der alte des Mythos, sonst aber ganz anders … Er trug das Gepräge eines schlichten Arbeitsmannes mit guten derben Fäusten, es war ein Mann, der nach dem inneren Zeugnis seiner eigenen Gesinnung nicht um zu übertreffen oder um irgend eines Ruhmes willen, nicht auch um neben oder nach der Arbeit zu genießen, nicht auch um in der, der Arbeit folgenden Muße die Schönheit der Welt zu verehren und zu kontemplieren, sondern ganz versunken in seine Sache still und langsam, aber mit einer von außen gesehen furcht-, ja schreckenerregenden Stetigkeit, Genauigkeit und Pünktlichkeit in sich selbst und in seine Sache wie verloren arbeitete, arbeitete und nochmals arbeitete – und was die Welt am wenigsten begreifen konnte – aus purer Freude an grenzenloser Arbeit an sich – ohne Ziel, ohne Zweck, ohne Ende.»
Halt, möchte man da aus dem 21. Jahrhundert dazwischenrufen! Grenzenlose Arbeit, ohne Ziel, ohne Zweck, ohne Ende – kann uns das noch eine Tugend sein? «Ha, du, i ko schaffa», diesen Satz mag man in Schwaben hier und da immer noch hören als ein kaum zu überbietendes Lob. Aber längst prangt uns von den Titelseiten der Illustrierten die Warnung entgegen: Wer unablässig und nur um des Schaffens willen schafft, den wird, früher oder später, der Burn-out ereilen. Der Begriff mag neu sein, der ihm zugrunde liegende Sachverhalt ist es nicht. Das Bairische kennt seit je die Bezeichnung «Gschaftlhuber» für einen, der sich mit übertriebenem Ehrgeiz wichtigmacht und dabei doch wenig zustande bringt. Und im Lande der tüchtigen Schwaben gibt es den lehrreichen Spruch: «Vom Schaffe wird koinr reich.» Die Tugend des Fleißes hat gehörig an Strahlkraft verloren, man will schon wissen, wofür man sich anstrengt und ob es sich überhaupt lohnt. Wer kann, lässt, anstatt selbst zu «schaffe», heutzutage lieber sein Geld für sich arbeiten. Und wer dies nicht kann, wünscht sich insgeheim ein paar Heinzelmännchen herbei, wie man sie aus der Kölner Sage kennt: «Wie war zu Cölln es doch vordem/Mit Heinzelmännchen so bequem!/Denn, war man faul: … man legte sich/Hin auf die Bank und pflegte sich:/Da kamen bei Nacht, Ehe man’s gedacht,/Die Männlein und schwärmten/Und klappten und lärmten/Und rupften/Und zupften/Und hüpften und trabten/Und putzten und schabten …/Und eh ein Faulpelz noch erwacht,/War all sein Tagewerk … bereits gemacht!» Leider existieren sie nur noch als Schwundstufe in Form der Mainzelmännchen, die im Zweiten Deutschen Fernsehen mit einem gekrähten «Gutnaaaabend» verlässlich den Beginn des Werbeblocks markieren.
«Fleiß für die falschen Ziele ist noch schädlicher als Faulheit für die richtigen», schreibt Peter Bamm. Wer wollte da ernsthaft widersprechen. Auf den Weltmeistertitel im Fleißigsein gibt es ohnehin geeignetere Anwärter als Deutschland: In Japan zum Beispiel, wo der jährliche Urlaub auf einige Tage beschränkt ist, den sich die meisten Arbeiter und Angestellte gar nicht anzutreten trauen; wo es in den Büros vielfach üblich ist, dass man erst nach dem Chef seinen Arbeitsplatz verlässt, auch wenn man seine Arbeit längst gemacht hat; wo am Ende des Arbeitslebens nicht der Burnout , sondern karoshi , der Tod durch Überarbeitung, lauert; dort kennt man ebenfalls das Wort
Weitere Kostenlose Bücher