Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Hitler und die Nationalsozialisten an der Macht waren, verklärten sie diesen Tag zum «Gedenktag der Bewegung»; und im Jahr 1938 machten sie den 9. November zum Tag ihres mörderischen Pogrom gegen die deutschen Juden, das den schönfärberischen Namen «Reichskristallnacht» erhielt.
Man kann also durchaus nachvollziehen, warum die politischen Vertreter des wiedervereinigten Deutschlands davor zurückschreckten, den 9. November zum nationalen Gedenktag zu erklären. Zu verfänglich schien ihnen das Datum und nur allzu berechtigt die Befürchtung, dass über der Feier des Siegs der demokratischen Revolution von 1989 die Erinnerung an die beispiellosen Verbrechen des NS-Regimes verlorengehen könnte. Und doch bedauerten es nicht wenige, und ich zählte mich zu ihnen, dass jener Tag, an dem 1989 die Tugend der Freiheitsliebe in Deutschland so glücklich triumphierte, nicht zum Nationalfeiertag Deutschlands erhoben wurde, sondern ein Datum, zu dem die allerwenigsten eine gefühlsmäßige Verbindung spüren.
Von «dreierlei Liebe zur Freiheit» schrieb einst Heinrich Heine im Jahr 1827: «Der Engländer liebt die Freiheit wie sein rechtmäßiges Weib, er besitzt sie, und wenn er sie auch nicht mit absonderlicher Zärtlichkeit behandelt, so weiß er sie doch im Notfall wie ein Mann zu verteidigen, und wehe dem rotgeröckten Burschen, der sich in ihr heiliges Schlafgemach drängt – sei es als Galant oder als Scherge. Der Franzose liebt die Freiheit wie seine erwählte Braut. Er glüht für sie, er flammt, er wirft sich zu ihren Füßen mit den überspanntesten Beteuerungen, er schlägt sich für sie auf Tod und Leben, er begeht für sie tausenderlei Torheiten. Der Deutsche liebt die Freiheit wie seine alte Großmutter.»
Das 20. Jahrhundert hat Heine gleich doppelt widerlegt: am 17. Juni 1953, als die ostdeutschen Arbeiter gegen die DDR-Regierung auf die Barrikaden gingen; und schließlich im Jahre 1989, als die Menschen in Berlin, Leipzig, Rostock und anderswo riefen: «Wir sind das Volk!» und mit ihrer friedlichen Revolution die Diktatur zum Einsturz brachten. Und sie haben der Welt das eindrucksvolle Beispiel gegeben, dass man keinen König köpfen muss, um seine Freiheits liebe unter Beweis zu stellen.
Dass die Liebe der Deutschen zur Freiheit eher saft- und kraftlos ist, vergleichbar mit der Rotkäppchens zu seiner Großmutter, mit dieser Ansicht stand Heinrich Heine über die Jahrhunderte hinweg nicht allein da. Mochten die Bürger im Nachbarland Frankreich auch noch so beherzt auf die Barrikaden gehen, in Deutschland herrschte Ruhe und Ordnung. Und als man 1848 doch den Versuch einer Revolution unternahm, verlief die bald im Sande. Immer wenn sich das deutsche Rotkäppchen durch den dunklen Wald zur Großmutter Freiheit aufmachte, kam es vom Weg ab und ließ sich vom bösen Wolf der Obrigkeit einfangen – mit den aus dem Märchen bekannten Folgen. Mochte es auch guten Willens sein: Es fehlte dem deutschen Rotkäppchen das «leichte Champagnerblut», das seine französischen Brüder und Schwestern auszeichnete. «Selbst im Fall einer Revolution würden die Deutschen sich nur Steuer freiheit, nie Gedanken freiheit erkämpfen», schrieb Friedrich Hebbel. Und Kurt Tucholsky, knapp und sarkastisch: «Wegen ungünstiger Witterung fand die deutsche Revolution in der Musik statt.»
Als deutscher «Dichter der Freiheit» wird bis heute besonders Friedrich Schiller verehrt. Mit zweiundzwanzig Jahren floh er aus seiner Heimat Württemberg, als Herzog Carl Eugen ihm das Dichten verbieten wollte. Wie wohl die meisten meiner Generation habe ich als Schüler im Deutschunterricht seine Gedichte und Verse auswendig gelernt – Das Lied von der Glocke , Die Bürgschaft , Der Spaziergang. Wer sie einmal gelernt hat, der vergisst sie nicht mehr: «Seine Fesseln zerbricht der Mensch. Der Beglückte! Zerriss er/Mit den Fesseln der Furcht nur nicht den Zügel der Scham!/Freiheit ruft die Vernunft, Freiheit die wilde Begierde,/Von der heil’gen Natur ringen sie lüstern sich los …» – Und niemand, der einmal den Don Carlos gesehen hat, wird die Zeilen vergessen, mit denen sich der Marquis von Posa dem spanischen König zu Füßen wirft: «O, könnte die Beredsamkeit von allen/Den Tausenden, die dieser großen Stunde/Teilhaftig sind, auf meinen Lippen schweben,/Den Strahl, den ich in diesen Augen merke,/Zur Flamme zu erheben! … Gehn Sie Europens Königen voran./Ein Federzug von dieser Hand, und neu /Erschaffen wird
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