Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
frühlingshafte Naturschwärmerei sinkt früher oder später zu Boden, wenn der Winter einkehrt.
Ordnungsliebe
R asant war der wirtschaftliche Aufstieg, den das geeinte Deutsche Reich in den Jahren nach 1871 nahm. Ob in Finanz, Industrie oder Handel: Überall schloss Deutschland binnen zweier Jahrzehnte zur Spitze der Weltwirtschaft auf. Unter dem Begriff «Gründerzeit» ist die Epoche in die Geschichtsbücher eingegangen. Mit dem Boom der Konzerne, Aktiengesellschaften und Konsortien wuchs aber auch die Bürokratie und wuchsen mit ihr die Aktenstapel in Kontoren, Ämtern und Behörden. Aber wie bloß der Flut von Papier Herr werden? Üblicherweise wurden damals Aktenstücke und Papiere fortlaufend auf Nägel aufgespießt – eine äußerst unpraktische Methode, jedenfalls wenn man einmal auf ein Dokument zurückgreifen wollte, das sich wer weiß wo im Aktenblock befand. Diesen Missständen wollte ein findiger schwäbischer Unternehmer unbedingt abhelfen. Er war Sohn eines Küfers und einer Metzgerstochter. Nach einer Drechslerlehre hatte er sich zum Mechaniker ausgebildet und im Jahr der Reichseinigung in Stuttgart eine Firma mit dem Namen «Mechanische Werkstatt und Faktura-Bücherei» gegründet. Mehr als zwanzig Jahre tüftelte er an seiner Erfindung herum, bis er 1896 sein Ergebnis der Öffentlichkeit präsentierte: einen neuartigen Ordner mit eingenietetem Umlegebügel und Hebel. Er brachte seinen Namen in dicker Pinselschrift auf dem Pappdeckelrücken an, und der Leitz-Ordner war geboren.
Seine Schöpfung war so perfekt, dass es für Johann Ludwig Leitz und seine Nachfolger im Lauf der nächsten hundert Jahre nur wenig daran zu verbessern gab. Im Jahr 1908 erhielt der Ordner seine graue Wolkenmarmorierung, wie sie bis heute markentypisch ist, drei Jahre später kam das Griffloch im Ordnerrücken hinzu. Den zum Abheften notwendigen Locher – eine Erfindung des konkurrierenden rheinländischen Kaufmanns Friedrich Soennecken, der selbst eine Frühform des Ordners auf den Markt gebracht hatte und sich mit Leitz erbitterte gerichtliche Patentfehden lieferte – bekam man gratis dazu. Bald schon produzierte Leitz seine Ordner millionenfach, und in den Kontoren und Amtsstuben Deutschlands und darüber hinaus kehrte Ordnung ein. Fast hundert Jahre wuchs und gedieh das Familienunternehmen, bis es im Sturm der Globalisierung im Jahr 1998 seine Unabhängigkeit verlor. Doch auch in den Zeiten des Internets, da man allüberall die Vorzüge des papierlosen Büros anpreist, werden unter dem Namen Leitz Jahr für Jahr weltweit mehr als fünfzig Millionen Ordner gefertigt und vertrieben.
Hätte der Aktenordner auch anderswo erfunden werden können? Wohl kaum, überall auf der Welt wird Deutschland für seine Ordnungsliebe bewundert und von manchen auch gefürchtet. Ein jeder, der nach Deutschland kommt, lernt ihn schnell kennen – den Wald der Verordnungen, Paragraphen und Verbote, die das Zusammenleben regeln: «Rasen betreten verboten!», mahnt das Schild im Park, mag der Zustand des dahinter liegenden Grüns auch noch so trostlos sein. Am Gartenzaun prangt das Schild «Fahrräder anlehnen verboten» direkt neben der Aufforderung «Ausfahrt Tag und Nacht freihalten». Im Zweifelsfall gilt: «Eltern haften für ihre Kinder.» Wer hierzulande den Führerschein machen will, muss sich einer schriftlichen Prüfung unterziehen, in der ihm die Kenntnis sämtlicher Unterparagraphen der Deutschen Straßenverordnung abverlangt wird. Beklagenswert, wer sich der Tortur unterziehen muss, eigenhändig seine Steuererklärung auszufüllen – er kann sich darauf verlassen, dass das Formular Jahr für Jahr immer noch ein bisschen komplizierter wird und kaum eine Bestimmung des ausgefeilten deutschen Steuerrechts länger als zwölf Monate Bestand hat. Wer eine Wohnung anmieten will, sieht sich mit mehrseitigen Anlagen voller winzig gedruckter Paragraphen konfrontiert, die die Hausordnung regeln. Und jeder kennt Beispiele für die oft unfreiwillig komischen Formulierungen, die unter dem Begriff «Behördendeutsch» inzwischen ganze Bücher füllen. Als die Regierung von Mecklenburg-Vorpommern im Oktober 1999 im Landtag ein Gesetz mit dem Namen Rinderkennzeichnungs- und Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragunsgesetz, abgekürzt RkReÜAÜG, vor legte, brach unter den Abgeordneten ob des Bandwurmnamens schallendes Gelächter aus. Es wurde dann aber trotzdem mehrheitlich verabschiedet.
Eine geradezu aberwitzige Häufung
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